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Timbuktu

Timbuktu

Titel: Timbuktu
Autoren: Paul Auster
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Ausdruck, mit der man lieber nicht spaßte. Die einzige Hoffnung, sich je wieder aus diesem Alptraum herauszuwinden, bestand für Willy darin, gute Miene zum bösen Spiel zu machen.
    »Jawoll, Chef«, murmelte er, »ich höre dich laut und deutlich.«
    Der Dicke lächelte. Dann fuhr die Kamera ganz langsam zu einer Nahaufnahme heran. Ein paar Sekunden lang stand der Weihnachtsmann da und strich sich gedankenverloren den Bart.
    »Weißt du, wer ich bin?« fragte er schließlich.
    »Ich weiß, wie du aussiehst«, entgegnete Willy, »aber das heißt noch lange nicht, daß ich weiß, wer du bist. Erst habe ich dich für irgend so ’nen Schauspieler-Arsch gehalten. Dann dachte ich, vielleicht bist du ’n Flaschengeist. Und jetzt habe ich nicht mehr den blassesten Schimmer.«
    »Ich bin der, dem ich gleiche.«
    »Klar, Kumpel, und ich bin der Schwager von Haile Selas- sie.«
    »Santa Claus, William. Der Nikolaus. Der Weihnachtsmann persönlich. Die einzige Macht des Guten, die es noch auf Erden gibt.«
    »Santa Claus, hmm? Und das buchstabiert sich nicht zufällig S-A-N-T-A, oder?«
    »Doch, genau so. Genau so buchstabiert sich das.«
    »Das hab ich mir schon gedacht. Und wenn wir die Buchstaben jetzt ein wenig verschieben, was haben wir dann? S-A-T-A-N haben wir dann. Du bist der gottverdammte Teufel, Alter, und du existierst nur in meiner Vorstellung.«
    Bemerkenswert, wie sehr Willy gegen die Erscheinung anzukämpfen versuchte und wie entschlossen er war, ihren Zauber zu bannen. Er war doch kein spatzenhirniger Irrer, der sich von Eingebungen und Gespenstern herumscheuchen ließ. Er wollte nichts damit zu tun haben, und der Abscheu, der ihn überkam, die offene Feindseligkeit, die er jedesmal zum Ausdruck brachte, wenn er sich an die ersten Augenblicke dieser Begegnung erinnerte, überzeugten Mr. Bones davon, daß die Sache tatsächlich so verlaufen war, daß Willy wirklich eine Vision gehabt und nicht alles einfach erfunden hatte. Wenn man seinen Worten glaubte, war es der reinste Skandal gewesen, eine Beleidigung seiner Intelligenz, und allein schon der Anblick dieses klischeebeladenen Ochsen brachte Willys Blut in Wallung. Solchen Klimbim mochte glauben, wer wollte. Weihnachten war ein einziger Mumpitz, eine Zeit des schnellen Geldes und der klingelnden Kassen, und der Weihnachtsmann als Symbol dieser Jahreszeit, als personifizierte Essenz dieses ganzen Verbrauchernepps, war der größte Beschiß von allen.
    Aber dieser Kerl war kein Betrüger, und er war auch nicht der Teufel in Verkleidung. Er war der echte Weihnachtsmann, der alleinige Herr der Elfen und Geister, und in seiner Botschaft predigte er Güte, Großzügigkeit und Selbstaufopferung. Diese unglaubwürdigste aller Erfindungen, dieses Gegenteil von allem, wofür Willy einstand, dieser wandelnde sentimentale Kitsch in roter Jacke und pelzbesetzten Stiefeln - der Weihnachtsmann in all seiner Madison-Avenue-Pracht - war aus den Tiefen des Fernsehlandes aufgetaucht, um die Gewißheiten von Willys Skeptizismus zu erschüttern und seine Seele heilzumachen. So einfach war das. Wenn hier einer ein Betrüger sei, sagte der Weihnachtsmann, dann Willy, und dann wusch er ihm richtig den Kopf und hielt dem verschreckten und verwirrten Jungen fast eine Stunde lang eine ordentliche Gardinenpredigt. Er schimpfte ihn einen Heuchler, Schwindler und untalentierten Schmierfritzen, steigerte sich zu Null, Schlappsack und Dummkopf und durchbrach so nach und nach Willys Abwehr, bis dieser das Licht der Wahrheit sah. Da lag er längst auf dem Fußboden und heulte sich die Augen aus, flehte um Gnade und versprach, sich zu bessern. Weihnachten war echt, erfuhr er, und es würde keine Wahrheit und kein Glück für ihn geben, wenn er nicht anfing, den Geist der Weihnacht in sich aufzunehmen. Fortan sollte folgendes zu seinem Lebensauftrag werden: jeden Tag des Jahres nach der christlichen Botschaft zu leben, nichts von der Welt zu verlangen und ihr im Gegenzug nur Liebe zu schenken.
    Mit anderen Worten: er beschloß, ein Heiliger zu werden.
    Und so geschah es, daß William Gurevitch alles Weltliche hinter sich ließ und aus seinem Fleisch ein neuer Mensch namens Willy G. Christmas geboren wurde. Um dieses Ereignis gebührend zu feiern, machte sich Willy gleich am nächsten Morgen auf nach Manhattan und ließ sich das Bild des Weihnachtsmanns auf den rechten Arm tätowieren. Es war ein schmerzhaftes Martyrium, doch er erduldete die Nadelstiche gern und triumphierend, weil er nun ein
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