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Thennberg oder Versuch einer Heimkehr

Thennberg oder Versuch einer Heimkehr

Titel: Thennberg oder Versuch einer Heimkehr
Autoren: Gyoergy Sebestyen
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den Raum, in dem sie sich bewegen. Dies allerdings in einer Art, die die einzelnen Handlungen fast nebensächlich erscheinen lässt, obwohl alle miteinander eine Art Räderwerk ergeben, aus dem der Einzelne letztlich nicht zu entfliehen vermag. Er ist gefangen in Zeit und Raum sowie in sich selbst und den im innersten Ich gespeicherten Begriffen. Im Roman wird dieses Innen und Außen unmissverständlich angesprochen: Eigentlich „ist das Verhältnis zwischen der Wirklichkeit und ihrer Formulierung durch Worte wirklich paradox. Man würde glauben, die Wirklichkeit hätte Bestand und die Worte wären flüchtig, und dann sieht man auf einmal, dass die Wirklichkeit, die janur eine einzige Gegenwart hat, fortwährend dahinschwindet, während ihre Hülle so wie sie in den Köpfen und in den Worten der Leute Form gefunden hat, bestehen bleibt.“ (95) Und eben diese Hüllen errichten jene Labyrinthe des Lebens, aus denen es kein Entkommen gibt.
    Darüber hinaus ist es György Sebestyén gelungen, Situationen im fiktiven Thennberg zu gestalten, die ohne große Schwierigkeiten als Schilderungen von Wien gesehen werden können und – auf bestürzende Weise – ihren Wahrheitsgehalt und ihre Richtigkeit bis heute ungebrochen behalten haben: „Immer lustig, immer froh, das Schlimmste, das einem passieren kann, ist der Tod, und so ganz und gar grässlich ist der auch nicht, aber bis zum Tod ist es noch eine Strecke“ (44). Dieses Klischee hat unbeschadet überdauert. Es ist Teil der Selbstinszenierung, über die wir oben schon gesprochen haben. Und die Sehnsucht, bis zum letzten Atemzug lustig und froh unterwegs zu sein, ist ebenfalls geblieben.
    Einen kleinen Ort namens Thennberg zu erfinden, ist der geniale Schachzug eines gewieften Erzählers. In Großstadtromanen steht der Autor vor dem Problem, auf welche Weise er die Figuren aufeinander treffen lässt. In einem kleinen Ort kennt jeder jeden. Außerdem lassen sich auf diese Weise die Gegebenheiten, die man beschreiben wollte, unter einen einzigen Fokus stellen. Wie klar Thennberg eigentlich Wien und die Wiener meint, vermag folgendes Zitat zu belegen: „[…] feiern sie Schlachtfeste, gehen sie am Weihnachtsabend zur Mitternachtsmesse, versammeln sich im Wirtshaus, legen sich bei Einbruchder Dunkelheit schlafen, veranstalten sie Bälle, Tanzabende, Maskenfeste, hassen sie einander, weil sie nichts Besseres zu tun haben, schimpfen sie über die Ausländer, die jeden Abend hinter den vorbeisausenden Fenstern des Expresszuges zu sehen sind, der in Thennberg niemals hält, schimpfen sie über die aufgetakelten Weiber, über die geizigen Alten, über die Regierung, über die Juden, die immer nur Unruhe stiften, trinken sie Bier oder Wein oder Schnaps […]“ (45f).
    Was den Roman über das Inhaltliche hinaus lesenswert und ihn zu einem Grundbuch der österreichischen Literatur nach 1945 macht, ist die stets neutral bleibende Position des Erzählers, der durch den ständigen Wechsel der Erzählperspektive ein Verwirrspiel zwischen Traum und Wirklichkeit, zwischen Erinnerung und Gegenwart erzeugt. Charakterliche Durchzeichnungen der einzelnen geschilderten Figuren unterbleiben, dafür wird dem Leser ein Blick in eine Gesellschaft gewährt, in der Gewalt, Oberflächlichkeit, Unwahrheit, Selbsttäuschung und Unrecht wuchern, doch die einzelnen Menschen eigentlich nichts sind. Diesem Wuchern entsprechen Erwähnungen wie „das Blühen der wahnsinnig gewordenen Sträucher“ (128) oder „das hysterisch blaue Glänzen in den Augen“ (128). Äußerst sorgfältig bis ins noch so nebensächlich wirkende Detail baute György Sebestyén seine Sätze und Sprachbilder, um seiner Zuneigung zu der Stadt, in der er bis zu seinem Lebensende arbeitete und wirkte, Ausdruck zu verleihen.
    Auf dem bereits erwähnten, ihm gewidmeten Symposion in Kairo, 1982, sagte er: „Ich glaube, es ist die Aufgabedes Autors von heute, in unserer Zeit […] seine Liebe, die er für Dinge empfindet, wirklich auszudrücken. Zu Liebe und zu offenem Schwärmen kommt dann noch etwas, und das ist die Skepsis, aber doch keine bittere Skepsis, sondern eine lächelnde Skepsis.“ Offenes Schwärmen oder lächelnde Skepsis wird man in Thennberg vergeblich suchen, dafür aber viel Liebe zu dem Land, an dessen geistiger Trägheit György Sebestyén litt und an deren Überwindung er sich mühte.

    Helmuth A. Niederle



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