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Thennberg oder Versuch einer Heimkehr

Thennberg oder Versuch einer Heimkehr

Titel: Thennberg oder Versuch einer Heimkehr
Autoren: Gyoergy Sebestyen
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beweisen willst du alles. Und weil du so stolz bist und alles besser weißt als andere und es den anderen gleich auch erzählen musst, müssen andere Leute sterben. Er hat sie ja nicht getötet, weil er sie hatte töten wollen, er hat sie getötet, weil er nicht wollte, dass sie mit dir beisammen ist, dass sie weggeht von ihm, sie war ja das einzige Kind, und plötzlich will das einzige Kind davonlaufen, und nicht mit irgendjemandem, sondern mit einem Juden. Richard Kranz sagte: Ich bin kein Jude. Markus Löw schien es nicht zu hören. Den Juden, sagte er, den durfte man natürlich nicht antasten, nein, den nicht, der ist gerade aus dem Kazet gekommen, da hätte es Scherereien gegeben, denn wieso sollten ausgerechnet die Russen ausgerechnet einen Judenerschießen, der gerade aus dem Kazet gekommen ist? Und da also musste er sich entschließen, mit schwerem Herzen, lieber das eigene Kind umzubringen, denn warum sollten ausgerechnet die Russen ausgerechnet ein junges Mädchen nicht erschießen? Vielleicht wollten sie das Mädchen vergewaltigen, vielleicht hat das Mädchen geschrien, vielleicht kam gerade jemand vorbei, vielleicht haben sie das Mädchen schnell erschossen. Und jetzt kommst du, der ja alles immer besser weiß, und willst alles beweisen? Und beweisen willst du, dass du dem Mädchen den Kopf verdreht hast, so dass sie mit dir hatte weglaufen wollen, und beweisen willst du also, dass du den Vater richtiggehend bedrängt hast, lieber Vater, bring sie doch schnell um, dass du ihm die Pistole in die Hand gegeben hast, dass du ihn dazu getrieben hast, sie zu erschießen?
    Ich konnte es nicht wissen, sagte Richard Kranz.
    Wieso konntest du gerade das nicht wissen? fragte Markus Löw. Sonst weißt du ja alles. Du weißt bloß nicht, wann du ihm gesagt hast, dass er sie umbringen soll, und wann sie dann weggegangen ist und wann sie erschossen wurde und wann man sie fand und wann man sie zurückbrachte, und natürlich weißt du auch nicht, wie die Menschen sind, sonst weißt du ja alles. Lauf nur hin zur Polizei und sage, Herr Polizist, ich bin der und der, und da und da ist ein Mädchen erschossen worden, mit einer russischen Pistole, aber es ist der und der gewesen, nicht die Russen, sondern ihr Vater, ich fordere, dass man sie wieder ausgräbt und dafür den Vater umbringt, denn Gerechtigkeit muss sein.
    Gerechtigkeitmuss sein, sagte Richard Kranz. Er schwankte, musste sich setzen und sah dem dunklen, bärtigen, melancholischen Mann ins Gesicht, das nun lächelte, nachdenklich und freundlich, es war das Gesicht des Jesus Christus vom Öldruck, und die Stimme quietschte nicht mehr, sie war noch leiser geworden, eine heitere Flüsterstimme, klingelnd und fröhlich.
    Warum? fragte die fröhliche, klingelnde Flüsterstimme, und Markus Löw lächelte immer noch, er hatte keine Zähne , seine bebarteten Lippen zogen sich in die Breite, es war der zahnlose Mund eines lächelnden Säuglings. Warum muss Gerechtigkeit sein? fragte die Stimme. Siehst du, mein Sohn, das eben ist der große Irrtum, denn wer sagt, dass Gerechtigkeit sein muss? Und wer nimmt sich das Recht, zu bestimmen, was Gerechtigkeit ist? Nehmen wir an, der Vater hat seine Tochter wirklich erschossen. Aber was für ein Vater? Ein Krüppel. Ein Krüppel braucht sein eigenes Kind zum Leben, er braucht es, wie seinen Stock zum Gehen. Ist es Gerechtigkeit, so einem hinkenden Krüppel die einzige Hoffnung wegzunehmen? Nur, weil der Herr Kranz plötzlich ankommt und sagt: Das und das gehört von heute an mir? Ist es Gerechtigkeit, dem Vater zu sagen: Du musst sie hergeben? Und wenn er nur der Stiefvater ist – hat er kein Recht darauf, zu antworten: Nein, ich gebe sie nicht hin, lieber soll sie liegen unter der Erde als unter dir? Na gut, kannst du darauf sagen, na gut, aber ist es denn Gerechtigkeit, das Glück von zwei jungen Menschen zu zerstören? Sagen wir, sie haben sich gefunden und wollen gleich weglaufen. Ist es Gerechtigkeit, sie aufzuhalten? Aber wenn du das sagst, meinSohn, dann kann ich darauf fragen: Ist es Gerechtigkeit, ein junges Mädchen vor so eine Wahl zu stellen: Entweder du bleibst bei deinem Vater, oder du kommst mit? Wie soll sie da entscheiden? Wenn sie bei dem Vater bleibt, hat sie vielleicht ihr Leben verpfuscht, wenn sie weggeht von ihrem Vater, dann hat sie sein Leben verpfuscht, und vielleicht hat sie obendrein das eigene Leben auch noch verpfuscht, denn wie lange dauert schon so eine Liebe? Sie kann dauern fünfzig Jahre und kann
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