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Thennberg oder Versuch einer Heimkehr

Thennberg oder Versuch einer Heimkehr

Titel: Thennberg oder Versuch einer Heimkehr
Autoren: Gyoergy Sebestyen
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er antworten können, er sagte: Ja, gewiss. Sie fragte: War sie sehr nett? Und dann sagte sie: Es ist kalt hier, und Richard Kranz sagte: Oben ist es wärmer. Er fror, wahrscheinlich hatte er Fieber.
    Hinter der braunen Türe, in der Wohnung der Tante Paula war es wirklich wärmer, die Sonne schien auf das Dach, die Zimmer waren klein, alles stand auf seinem Platz, vor dem Spiegel glänzten zwischen den Zähnen des Kammes ein paar rotblonde, vielleicht silbrige Haare. Lilo hüpfte hinaus in den Duschraum, beroch das eierförmige Stück Seife, flog durch den Salon in das Schlafzimmer, zum Nachttisch, sah sich das Buch an, Ulrike Woytich von Jakob Wassermann, lief zum Fenster, spähte hinaus, sprang herum wie ein Kanarienvogel im Käfig, hatte das erste Tuch vom Kopf geworfen und dann das zweite und das dritte, war aus dem Mantel geschlüpft, sie trug ein rotes Kleid aus festem Stoff, vielleicht war es Flanell, und endlich fragte sie: Hat das Mädchen hier gewohnt? Richard Kranz schwieg. War sie netter als ich? fragte Lilo. Lass sie in Frieden, sagte Richard Kranz, sie lebt sicherlich nicht mehr, wollte er sagen, man hat sie verbrannt, auch ihren blauen hysterischen Blick hat man irgendwo verbrannt, so etwas geht ja schnell, zwei sülzerne Kugeln in zweiAugenhöhlen verwandeln sich schnell in ein paar Körnchen Staub. Er sagte es nicht, nahm Lilos Hand in die eigene Hand, hob sie hoch, betrachtete die Finger, einen nach dem anderen, betrachtete sie gründlich, Jungmädchenfinger, nicht ganz sauber, ein wenig rot an den Knöcheln, das Nagelbett rissig am Daumen, die Nägel geradegeschnitten, zu kurze Nägel, er sah sie an und küsste die etwas zu roten Fingerkuppen, eine nach der anderen; dünne Jungmädchenfinger verbrennen schnell, wollte er sagen, sagte es nicht, küsste dann den schmalen Mund, die Lippen waren rissig, ungeduldig, ungeschickt; dünne Jungmädchenlippen verbrennen schnell, dachte er, schwieg, küsste den schmalen Mund, fand zwischen den feinen scharfen Zahnreihen hindurch zur spitzen, flinken, allzu lebhaften Jungmädchenzunge, auch allzu flinke Zungen verwandeln sich schnell in ein paar Körnchen Staub, dachte er, wollte er sagen, sagte es nicht, wollte nicht länger denken; das rote Flanellkleid hatte links an der Taille einen Reißverschluß, das gab ein surrendes Geräusch.
    Richard Kranz öffnete die Augen, er hatte seit fünf Jahren keine Frau gesehen, er hatte niemals eine Frau gesehen so halb ausgezogen, in einem weißen Unterkleid, das nicht mehr ganz weiß war, in einem rosafarbenen Schlüpfer, der beinahe bis an die Knie reichte. Komm, sagte er, und wiederum sprach ein anderer aus seinem Mund, komm, es gibt hier keine dicken Vorhänge und keine Rollos, und während er das sagte, dachte er: Warum entschuldige ich mich dauernd? und sagte: Ich liebe dich. Und fragte sich im selben Augenblick, warum er das gesagt hatte, mit wessen Stimme und zu wem.
    Erlegte den Mantel ab, schlüpfte aus Hemd und Hose; als er sich das letzte Mal bei helllichtem Tage ausgezogen hatte, war es wegen der Entlausung gewesen, und nachher war man hinübergegangen ins Bad. Man sagte, es gäbe irgendwo Lager, in denen aus den Brausen des Bades kein Wasser kam, sondern Gas, oder man musste sich ausziehen, um erschossen zu werden; nackte Körper drängten sich aneinander, nackte Berge menschlichen Fleisches stürzten irgendwohin, verbrannten, verfaulten. Richard Kranz sagte: Ich liebe dich. Er klammerte sich an den Satz, rief sich zurück in das Schloss, in die Wohnung der Tante Paula, zurück in die eigene Kindheit, die verschwunden war, zurück, ja, wohin? Er betrachtete eine Sekunde wie zum letzten Mal seinen Körper, den abgemagerten Leib eines erwachsenen Mannes, er war fremd, wohin war der Junge aus dem Haus in der Bräunerstraße verschwunden, ein fremder Mensch stand im blanken Tageslicht, ein Stück Vieh, nackt, wie zum Sterben bereit: Er schob das magere Becken nach vorne, dem steifen Muskelstrang des Gliedes nach, auch dieses Glied, das den Körper hinter sich herzog, hatte Richard Kranz noch niemals gesehen, wer war dieser Mann, der zwischen der Kälte des Leintuches und der Bettdecke sich an einen warmen Körper preßte, an den Körper einer Frau, wer war sie, er musste sie sehen.
    Das weißblonde Haar bedeckte ihr Gesicht, nur die Nase stach vor, und die schmalen blassen Lippen ließen die feinen scharfen Zahnreihen sehen, es war ein lächelnder Mund, der Hals lang, die Schultern eckig, die Achselhöhlen
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