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Strasse der Sterne

Strasse der Sterne

Titel: Strasse der Sterne
Autoren: Brigitte Riebe
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FINIS TERRAE
      
    Hoch über ihr eine Möwenschar, die sich landeinwärts treiben lässt, bis sie plötzlich abdreht, um kreischend Kurs auf die Klippen zu nehmen. Kurz vor dem Wasser steigt sie wieder auf und verliert sich in der Ferne des Himmels. Mit einem Anflug von Neid sieht Pilar ihr hinterher. Sich schwerelos wie ein Vogel in die Lüfte schwingen zu können - wie einfach wäre dann selbst der schwierigste Weg zu bewältigen!
    Der Morgen ist verhangen und regnerisch gewesen; beim Aufwachen haben sich Nebelstreifen über ihr Gesicht gelegt wie flüchtige Träume. Jetzt jedoch erscheint ihr das Land offen und weit. Wolkenschiffe segeln über den Himmel, leuchtend wie blaues Glas. Trotzdem kommt sie nur langsam voran, denn noch immer schlägt der Wind ihr entgegen. Ihre Beine werden mit jedem Schritt schwerer. Keuchend stolpert sie blindlings weiter.
    Du wirst nicht erlöst, flüstert die hässliche innere Stimme, mach dir nichts vor! Nicht einmal der heilige Jakobus, zu dem sie alle von weit her kommen, hat dir helfen können. Wozu sich noch weiter sinnlos anstrengen?
    Hör auf!, befiehlt sie, bevor das Gift tiefer in ihr Herz sickern kann, sei still. Ich will dir nicht zuhören. Weshalb kannst du mich nicht in Frieden lassen?
    Aber die Stimme raunt unbeirrt weiter.
    Es gibt nur noch eines zu tun. Du weißt längst, was es ist. Weshalb wehrst du dich? Es ist nicht schwer, du wirst sehen! Ein bisschen Mut - und dann ist sie da, für immer, deine lang ersehnte Ruhe.
    Sie spürt, wie die Kraft in den Beinen nachlässt, und stemmt sich umso wütender gegen den Wind. Eine Macht, stärker als ihr Wille, treibt sie voran. Sie wird nicht aufgeben. Nicht so nah vor dem Ziel.
    Tief unten donnert das Meer. Die Luft riecht nach Fisch und Tang. Blanke Felsen, Steilhänge, wohin man schaut, geröllübersät, menschenverachtend. Ringsumher größere Gesteinsbrocken, als hätte ein Riese achtlos seinen Sack verschüttet. Ihre Füße versinken in den ausgewaschenen Kerben. Endlich ist sie nah genug. Mit einem tiefen Atemzug beugt sie sich hinunter - und erschrickt.
    Schwarze Tiefe, ein Heulen, Gurgeln und Brodeln, als stöhnten tausenderlei Stimmen zu ihr herauf. Nichts als Wasser, überall. Ist sie tatsächlich an der Grenze zum Schattenreich angelangt?
    Unmöglich, den Blick zu lösen von den Riffen und Schlünden, gegen die haushohe Wellen branden. Längst liegen die Gemüsegärtchen hinter ihr, auf die Tariq sie unterwegs aufmerksam gemacht hat, hilflose Versuche von Menschenhand, sich gegen die Gewalt des Meeres zu behaupten, das am Ende doch die Oberhand behalten wird. Weit entfernt kriecht ein Segler zwischen Brechern vorwärts, ein Geisterschiff, das sich schon im nächsten Augenblick im Blau des Horizonts auflösen kann. Geschichten über verlorene Seelen schießen ihr durch den Kopf. Ein Schritt nur über die Klippen, dem unwiderstehlichen Sog entgegen - und es wäre vorüber.
    Von irgendwo her ertönt schepperndes Gelächter.
    »Der Teufel will nicht die, die freiwillig zu ihm kommen. Hast du schon vergessen?«
    Plötzlich weht weißes Feenhaar im Wind, und sie meint einen Schatten zu spüren, der die Arme nach ihr ausstreckt. Alles in ihr zieht sich sehnsuchtsvoll zusammen - noch immer.
    Sie tastet nach einem Halt und fasst ins Leere.
    »Die Seele eines Menschen zieht die Milchstraße entlang nach Westen, bis sie beim Schöpfer angelangt ist. Wenn wir uns also dem Ende nähern, kommen wir auch wieder an den Anfang zurück...«
    Das ist die andere Stimme, warm und tröstlich!
    Verzweifelt versucht Pilar sich zu erinnern, wem sie gehört. Es ist wichtig, das weiß sie, aber je mehr sie sich anstrengt, desto leerer wird ihr Kopf. Meerluft verweht ihren Atem. Sie krümmt den Rücken und stemmt sich mit den Füßen fest gegen den felsigen Grund. Windböen peitschen ihr die Haare ins Gesicht.
    Irgendwann gelingt es ihr, sich von den Klippen zu lösen. Weiter draußen scheint die See weniger stürmisch und eher blau als schwarz. Die glänzende Fläche bewegt sich wie in einem langsamen Tanz. Plötzlich hat sie das Gefühl, der Ballast des langen Weges könne vielleicht doch von ihr abfallen.
    Sie ist so weit gegangen. Ist sie endlich bei sich angekommen?
    »Pilar!«
    Im ersten Augenblick glaubt sie an eine Sinnestäuschung. Es können nur die Wogen sein, die tief unter ihr schmatzen und fauchen, und bei jedem Anbranden ganze Steinladungen gegen die Felsen schmettern.
    »Pilar, Liebste! Hörst du mich nicht?«
    In ihrem
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