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Strasse der Sterne

Strasse der Sterne

Titel: Strasse der Sterne
Autoren: Brigitte Riebe
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Herzen bildet sich ein Knoten hilflosen Verlangens. Sie wendet den Kopf zur Seite, weil sie Angst hat, nur zu träumen.
    »Pilar! Ich bin es - siehst du mich?«
    Langsam dreht sie sich um.
    Sie ist doch nicht allein. Hat die Schwarze Madonna ihre Gebete schließlich erhört? Vielleicht wird sie nun nie mehr allein sein müssen...
    Im Moment des Erwachens wusste sie, dass etwas anders war als sonst. Ihre Zehen stießen an den mittlerweile abgekühlten Ziegelstein, den Tariq ihr fürsorglich unter die Decke gesteckt hatte. Ihre Hand erspürte auch die Wärme eines Tierkörpers. Aber ihre Katze war fort. Ein Loch in der Tür ermöglichte es Minka, nach Belieben zu kommen und zu gehen.
    Sie dehnte und streckte sich in dem Bett mit den geschnitzten Löwenfüßen, das einmal einer maurischen Prinzessin gehört haben mochte. Eine Decke aus Fuchsfell war über sie gebreitet, und obwohl sie es nicht sehen konnte, wusste sie, dass wie in Kindertagen eine Öllampe in der Ecknische brannte, weil sie sich als kleines Mädchen vor der Dunkelheit gefürchtet hatte.
    Jetzt war es immer dunkel für Pilar.
    Manchmal gelang es ihr, sich in das Unvermeidliche zu fügen, und es konnte sogar geschehen, dass sie beinahe vergaß, wie bunt und hell ihr Leben früher einmal gewesen war. Freilich gab es auch Tage, an denen sie fürchtete, all das Schwarz um sie herum könne in sie eindringen und ihre Seele ebenso auslöschen wie das innere Licht, über das sie niemals sprach. Mit Ausnahme von Tariq, dem maurischen Diener, der sich nie täuschen ließ, schaffte sie es, anderen gegenüber ihre Verzweiflung zu verbergen.
    Am meisten lag ihr daran, in Gegenwart des Vaters wenn schon nicht fröhlich, so doch wenigstens ausgeglichen zu wirken, damit er sich nicht noch mehr Sorgen machen musste. Heinrich Weltenpurger sorgte dafür, dass seine Tochter jede erdenkliche Unterstützung erhielt, vor allem, wenn er unterwegs war. So hatte er beispielsweise den Mauren angewiesen, die Wege mit ihr so lange abzuschreiten, bis sie sich mit Hilfe eines Weidenstocks im Haus allein zurechtfinden konnte.
    Nichts, woran er in seiner umfassenden Fürsorge für sein einziges Kind nicht gedacht hätte: Ohne seine Einwilligung durfte kein Gegenstand verrückt werden. Zwischen den Möbeln gab es ausreichend Spielraum, und die Teppiche, die die Winterkälte abhalten sollten, waren an allen Seiten mit Kupfergewichten beschwert, damit sie nicht rutschten. Es war eigens ein Leibstuhl angeschafft worden, um ihr das Benutzen des Abtritts zu ersparen, der aus der Ostseite des mehrstöckigen Hauses an der Wahlenstraße ragte.
    Und im vergangenen Winter, als das letzte Licht ihrer Augen erloschen war, hatte der weitgereiste Mercator, einer der angesehensten im Regensburger Kaufmannsviertel, den besten Tischler der Stadt bestellt. Seitdem waren alle Kanten ihrer Bettstatt abgerundet, damit sie sich beim Aufstehen nirgendwo anstoßen konnte.
    Es dauerte, bis das Mädchen sich ganz zurechtfand, aber schließlich gelang es ihr. Man schrieb das Jahr des Herrn 1245, und es war der Vortag zu Allerheiligen, dem Fest, an dem der Schleier zwischen der Welt der Lebenden und der Toten besonders dünn ist. Morgen, sobald die Stadt erwacht war, würden die Gläubigen sich zum Friedhof begeben, um an den geschmückten Gräbern zu beten. Pilar freute sich schon jetzt auf das lange Läuten am Abend. Immer dann hatte sie das Gefühl, ihre Mutter würde zu ihr sprechen. Obwohl Rena nun schon beinahe sieben Jahre fort war und kaum jemand es wagte, ihren Namen in Heinrichs Gegenwart zu erwähnen, fehlte sie der Tochter mehr denn je.
    Besaßen Häuser eine Seele?
    Pilar spürte, dass nichts mehr so war, seit Rena nicht mehr bei ihnen lebte. All der Zauber und Glanz, die das Anwesen mit dem stolzen Turm früher besessen hatte, waren verflogen; stattdessen hatte sich in den Mauern ein Gefühl von Verlust eingenistet wie dumpfer Wintermief. Gerade zehn war sie damals gewesen, in jenem fürchterlichen Hungerjahr, als die Donau bis an die Domstiegen angestiegen war und die Ärmsten der Armen aus Verzweiflung begonnen hatten, Brei aus Leinenfäden und Wasser zu essen.
    Eines Morgens war die Mutter fort gewesen.
    Es gab nur einen Brief von ihr, flüchtig hingeworfene Zeilen, die sie wie ein Kleinod hütete. Geschrieben waren sie auf Papier, jenes rare Material, das man nicht rollen musste wie Pergament, sondern Stoß auf Stoß winzig klein zusammenlegen konnte. Allerdings hatte es den Nachteil, brüchig zu
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