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Strasse der Sterne

Strasse der Sterne

Titel: Strasse der Sterne
Autoren: Brigitte Riebe
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werden, wenn man es immer wieder hervorholte, und Pilar hatte den Brief schon unzählige Male auf- und wieder zugefaltet. Inzwischen fühlte er sich ganz mürbe an. Es spielte keine Rolle, dass sie ihn nicht mehr lesen konnte. Sie kannte jedes Wort:
    »Ich muss gehen, mein Kleines, fort von dir für immer, und kann nicht einmal darauf vertrauen, dass du mich eines Tages verstehen wirst. Ich wäre besser niemals nach Regensburg gekommen, wo ich doch immer eine Fremde geblieben bin. Seit dem Tag deiner Geburt habe ich versucht, dir eine gute Mutter zu sein, obwohl mich niemals die Angst verlassen hat, zu versagen. Trotz allem weiß ich, dass du mehr verdient hättest - alles verdient hättest.
    Verzeih mir, dass ich nicht dazu in der Lage war!
    Sei nicht traurig, Pilar, und behalte mich in guter Erinnerung. Und vergiss vor allem eines nicht: Du bist ein Kind der Liebe, das Beste und Schönste, was zwei Menschen gemeinsam zustande bringen können. Dein Vater und ich haben alles riskiert, damit du geboren werden konntest. Ich wünschte, ich könnte dich weiter aufwachsen sehen, aber ich habe mich anders entschieden.
    Denn endlich ist mir klar geworden, wohin ich gehöre. Es war ein langer Weg, den ich zu gehen hatte, voller Hindernisse, Schwierigkeiten und Gefahren. Ich bin auch heute nicht ohne Angst, denn ich weiß, es wird weder einfach noch bequem werden. Aber jetzt bin ich bereit, mein Kreuz auf mich zu nehmen und zu Ende zu führen, was ich einst begonnen habe.
    Gott beschütze dich, mein Mädchen...«
    In jenem nassen, düsteren Herbst und den darauf folgenden kalten Wintermonaten waren viele in der Stadt verhungert. Pilar hatte es niemals an Nahrung gefehlt, ihr Schmerz jedoch war so übermächtig gewesen, dass sie Angst gehabt hatte, daran zu ersticken. Inzwischen hatte sich die Zeit wie ein Tuch auf sie gelegt. Die Mutter kam nicht zurück, nie mehr, das war ihr längst klar geworden. Manchmal war sie sogar überzeugt, Rena sei nicht mehr am Leben. Aber noch immer kämpfte das Mädchen gegen ein Gefühl an, als rieben die Fäden einer zerrissenen Liebe aneinander. Ob der Vater ähnlich empfand? Bislang hatte sie noch nicht den Mut gefunden, ihn danach zu fragen.
    Sie zog laut die Luft ein. Der Kälte und der Stille nach konnte es noch lange nicht Morgen sein. Was hatte sie so früh geweckt? War da nicht eben ein Geräusch gewesen?
    Neugierig geworden und inzwischen hellwach, beschloss Pilar, der Sache auf den Grund zu gehen. Sie tastete nach dem weichen persischen Schal am Fußende, den sie von allen Geschenken ihres Vaters am meisten liebte, schlang ihn eng um sich und stieg vorsichtig aus dem Bett.
     

 
ERSTES BUCH
DER RUF

 

    Regensburg, November 1245
       
    Es waren Laute der Lust, die aus Renas einstiger Kammer drangen. Pilar waren sie vertraut, denn als Kind hatte sie unzählige Male die Nase fest gegen die Eichentüre gepresst, getrieben von dem Wunsch, der Mutter ganz nah zu sein, und der nie ganz versiegenden Angst, abgewiesen zu werden. Rena schien es nichts auszumachen, wenn sie sich in ihrem Bett breit machte, im Schlaf vor sich hinbrabbelte oder zu schnarchen begann, wenn ein Schnupfen ihr Rachen und Nase verstopfte.
    Aber es gab auch andere Tage.
    Früh lernte Pilar, die Zeichen zu erkennen: das Gähnen des Vaters, mit dem er seinen Rückzugswunsch einzuleiten pflegte, oder die seltsame Unruhe, die Heinrich Weltenpurger plötzlich überfiel und sich bis zur Rastlosigkeit steigern konnte, wenn seine Frau unverbindlich auswich oder so tat, als würde sie sein Verlangen nicht bemerken. Meistens blieb die Kleine dann, wo sie war, und wartete sehnsüchtig, bis sie in der Morgendämmerung endlich doch zur Mutter laufen konnte. Rena ließ sie in der Regel unter die Decke, aber das Kind bemerkte trotzdem ihre Zurückhaltung, die sie wie eine kühle Brise in ihre Schranken verwies.
    Pilar liebte ihre Mutter über alles!
    Keine andere Frau hatte so seidiges weißes Haar, keine einen so geschmeidigen Körper, der sich beim Gutenachtsagen über das Kind neigte und alles Unheil der Welt zu bannen schien. Wenn sie ihr Canzonen aus ihrer Heimat vorsang, wünschte sich Pilar, die Zeit anhalten zu können. Nie konnte sie genug davon bekommen, denn diese melancholischen Weisen waren alles, was Rena über ihre Vergangenheit erzählte. Ihre Abstammung war tabu in diesem Haus, und das Kind wusste schon früh, dass es Geheimnisse gab, an die keiner rühren durfte. Alles hätte sie getan, um die Mutter froh zu
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