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Strasse der Sterne

Strasse der Sterne

Titel: Strasse der Sterne
Autoren: Brigitte Riebe
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kalligraphischen Anmut des Arabischen, die er so sehr liebte. Als ob der dauernde Kampf in ihrem Herzen sich auch auf ihre Hand ausgewirkt hätte.
    Stand ihm denn überhaupt zu, in dieses Dickicht einzudringen, das so viel Leid über alle Beteiligten gebracht hatte?
    Schließlich war er nur ein Diener, der überdies erst dazugestoßen war, als die Geschichte schon längst begonnen hatte. Die Herrin hatte sich ihm in Ermangelung eines anderen Verbündeten anvertraut, aber ihm nicht alles erzählt. Es war die Geschichte ihres Lebens, die zwischen dem gebeizten Leder aufbewahrt wurde. Was, wenn dieses Vermächtnis eines Tages verloren ging? War es nicht seine Pflicht, die Wahrheit an die Tochter weiterzugeben?
    Widerwillig öffnete Tariq die Mappe und las die ersten Zeilen. Sofort stand alles wieder vor seinen Augen: das Haus mit den vergitterten Fenstern in der Calle de Conde Luna, in dem sie gewohnt hatte, mitten im Viertel der Silberschmiede. Der Weg zu San Isidoro, den sie nicht mehr hatte gehen können, weil man sie eingesperrt hatte. Ihre Abstecher zum Markt auf der Plaza Mayor, wo sie zwischen gackernden Hühnern und keifenden Bäuerinnen herumgeschlendert war - bis eines Tages ihr Bruder zurückgekehrt war ...
    Tariqs Hände zitterten. Schon nach wenigen Seiten musste er die Blätter wieder weglegen. Er kam sich vor wie ein Dieb, der in intime Gemächer eingedrungen war. Was hier geschrieben stand, ging ihn nichts an!
    Und doch: Seine niña war drauf und dran, den Falschen zu heiraten. Ebenso wie ihre Mutter den Señor nur geehelicht hatte, weil sie an der Liebe zu einem anderen fast verbrannt wäre.
    Tariq hatte schon zu lange gezögert, das wusste er plötzlich.
    *
    Ein Knarzen weckte sie. Pilar gefiel es, dass die alten Dielen jeden verrieten. Nicht einmal Minka konnte sich auf dem Holz lautlos bewegen.
    »Papa?« Sie setzte sich auf. Mit einem Satz sprang die Katze aus dem Bett.
    »Ist leider doch sehr spät geworden«, sagte Heinrich, »bitte verzeih! Aber ich wollte dir unbedingt noch gute Nacht sagen.« Er strich über ihr Haar, das lang und dicht wie das ihrer Mutter war, aber dunkel wie Rauch, nicht weiß wie frischer Schnee.
    »Du darfst mich doch immer wecken.« Schlaftrunken rieb sie sich die Augen. »Schön, dass du wieder da bist! Ich habe dich schrecklich vermisst.«
    Er musste sich abwenden.
    Damit hatte vor Jahren alles begonnen - mit Tränen und verklebten Lidern; eine scheinbar harmlose Entzündung, die keiner ernst genommen hatte und die man mit Frauenmilch und gestoßenem Koriander eher beiläufig behandelt hatte. Kinderkram, hatte er gedacht, eine Unpässlichkeit, die schnell wieder vorbei sein wird. Wie hätten sie denn ahnen können, dass eines Tages Blindheit daraus würde?
    »Bist du mit deiner Fahrt zufrieden?«, fragte sie sanft, weil sie seine aufkeimende Traurigkeit spürte. »Es ist bestimmt nicht einfach, so lange mit lauter Fremden unterwegs zu sein!«
    »Nun ja, weidlich bekannt sind sie mir ja alle aus den Sitzungen der Kaufmannschaft. Aber man lernt immer wieder dazu. Auf schlammigen Straßen und in verwanzten Herbergen zeigen viele erst ihr wahres Gesicht. Der eine oder andere schreckt nicht einmal davor zurück, sich unterwegs mit allen Mitteln für das Amt des Hansgrafen zu profilieren. Und dennoch reist es sich noch immer sicherer gemeinsam in diesen gefährlichen Zeiten.«
    »Gab es Zwischenfälle?«, fragte sie. »Seid ihr überfallen worden oder bestohlen?«
    Er rieb seinen Bart.
    »Zum Glück nicht, aber du hast natürlich Recht, mein kluges Mädchen, so wie früher ist es schon lange nicht mehr«, fuhr er nachdenklich fort. »Damals, als mich Reiselust, Neugierde und Erlebnishunger quer durch Europa getrieben haben. In jenen Tagen war kein Weg mir zu gefährlich, keine Stadt mir zu weit.« Seine Stimme wurde fröhlich. »Inzwischen aber bin ich jedes Mal erleichtert, wenn ich das holprige Pflaster der Steinernen Brücke wieder unter meinen Sohlen spüre. Nicht einmal der unverschämte Zoll des neuen Brückenmeisters kann dann noch meine Laune schmälern. Denn ich weiß, dass ich nach ein paar Schritten bei dir bin.«
    »Und doch fährst du immer wieder weg.« Sie berührte seine Hand. »Ich könnte wetten, du planst schon wieder die nächste Reise!«
    »Du weißt, weshalb, Pilar. Ich führe mein Geschäft - auf meine Art. Ich vermisse dich auch, wenn wir getrennt sind. Aber ich kann nicht anders.«
    »Und weißt du eigentlich, Papa, wie sehr ich dich darum beneide?«
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