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Teufelsberg: Roman (German Edition)

Teufelsberg: Roman (German Edition)

Titel: Teufelsberg: Roman (German Edition)
Autoren: Sophie Dannenberg
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mit dem Rennleiter. Als Martin älter wurde, fantasierte er nur noch das Tanken, nach einer Weile ließ er auch das weg. Seine Gedanken verwandelten sich, wurden undeutliche Gebilde, halb Wort, halb Gefühl. Sie ermüdeten ihn.
    Der Himmel war schon den ganzen Tag bedeckt, nun setzte ein Graupelschauer ein. Winzige Eiskörner prasselten gegen die Windschutzscheibe. Martin bog in die Masurenallee, von dort auf den Messedamm. Das Kongresszentrum lag im Schatten des Funkturms, der grün in den Abendhimmel fluoreszierte. Die Farbe erinnerte Martin an den unglaublichen Hulk, jene Comicfigur, die sich nach einer Überdosis Gammastrahlen in ein muskelbepacktes Monster verwandelte. Am Messedamm musste Martin achtgeben, dass er nicht auf die Avus fuhr, sondern zur Halenseestraße. Er parkte vor dem Motel Avus. Er starrte auf die Leuchtschriften des Motelturms, dann schloss er einen Moment lang die Augen und senkte den Kopf aufs Lenkrad.
    Als er ein Kind war, hatte der Vater ihn einmal mit nach Berlin genommen, auf einen Kongress. Sie übernachteten im Motel Avus, in einem der Turmzimmer. Früher war die Avus eine Rennstrecke, die hölzerne Zuschauertribüne gab es noch, aber sie war leer, an ihrer Rückwand prangten Graffitiwolken. Nachmittags wollte der Vater seinem Sohn Berlin zeigen, aber Martin wollte am Fenster stehen bleiben und auf die Avus und die Zuschauertribüne schauen, bis es dunkel wurde.
    Er roch das warme Plastik des Lenkrads und spürte, wie es sich in seine Stirn drückte. Dann stieg er aus, richtete sich auf, und durch den kobaltblauen Vorbau betrat er das Motel.
    Früher hatte Martin sich vorgestellt, dass der Übergang von der Treue zur Untreue ein dunkles Tor sei, das er durchschreiten und das ihn für immer zu einem anderen machen würde. Er glaubte immer noch, dass es diesen Übergang gab, aber er spürte ihn nicht mehr. Wie auf einem Rollband glitt er von der einen Welt in die andere hinüber und danach wieder zurück, zu Sylvia, in die große gemeinsame Wohnung.
    In den letzten Jahren war die Wohnung immer stiller geworden. Wenn Martin nachts ins Bad ging, hallten seine Schritte im Dunkeln, und er konnte Sylvias Anwesenheit nicht spüren, obwohl er noch eben neben ihr gelegen hatte. Er dachte an Korsika, wie Sylvia nackt durchs Zimmer getanzt war; das war lange her. Ihr Körper leuchtete in der Frühe. Draußen fuhr der Wind durch die Pappeln, die harten Blätter klapperten. Aus den Wegen ragten graue Baumwurzeln. Die Zukunft war damals in die Gegenwart gerutscht, in einen einzigen Augenblick, der nach trockener Erde, Holz und Himmel duftete. Jetzt kam Martin die Zukunft vor wie eine schräge Auffahrt aus Beton. Irgendwo hörte sie auf, an einer harten Kante.
    Sein Leben war inzwischen ein Gebäude mit Hallen, Gängen und Drehtüren, und seine Person war in Besucher zerteilt, die das Gebäude nutzten und durchquerten. Jeder Besucher hatte die gleichen Grundeigenschaften, er hieß Martin Berger und war ein Mann mit scheuen Augen, knöchriger Nase und dichten, graubraunen Haaren. In der einen Halle war der Besucher ein Ehemann, mochte England und alte Bücher. In einer weiteren Halle war er promovierter Patentanwalt. In der dritten Halle war er sportlich und spielte Tennis bei Rot-Weiß. Und so ging es immer weiter, bis Martin in eine Halle kam, in der er sich nicht mehr fand.
    Dass er sich auch bei Jago nicht fand, war ihm egal. Sie trafen sich jede Woche. Er kannte ihren Nachnamen nicht, er wusste nicht, wo sie wohnte, und er war froh, dass sie ihn nicht fragte. Wenn er von ihr zurück nach Hause kam, war die Wohnung immer noch still, aber friedlich, als läge Schnee auf dem Parkett.
    »Tataa!«, rief sie, schleuderte Jacke und Tasche neben das Bett und breitete die Arme aus. Sie trug ein gelbes Stretchkleid, das zu kurz war für die Jahreszeit. Jagoda war Anfang dreißig, halb Polin, halb Deutsche, mit einem geschiedenen Mann samt drei Kindern im Libanon, warum auch immer. Sie hatte ihre ohrlangen Haare orange-gelb gebleicht und ihre Wimpernspitzen rot geschminkt, sie hatte pralle Hüften, lange Beine und einen kleinen Hängebusen. Wenn sie lachte, zuckten die Brauen nach oben; am Anfang hatte Martin sich erschrocken, weil das Lachen wie tiefes Schluchzen klang.
    Sie legte sich neben ihn und räkelte sich.
    »Weißt du was?«, sagte er. »Wir tun es heute an einer Rennstrecke.«
    »Echt?«
    »Ja, hier führt die Avus vorbei. Die erste Rennstrecke Deutschlands. Drüben siehst du noch die
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