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Teufelsberg: Roman (German Edition)

Teufelsberg: Roman (German Edition)

Titel: Teufelsberg: Roman (German Edition)
Autoren: Sophie Dannenberg
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aus Glasolex verbreiterten sich oben zu Kegeln, die in aneinanderstoßende Halbkugeln mündeten und auf diese Weise das Dach bildeten.
    »Eine Reminiszenz an Frank Lloyd Wright«, sagte der Gruppenleiter, »an das Johnson Wax Building.«
    Die Gruppe sah nach oben. Aber Martin betrachtete Jagos Busen, der leicht über dem Brustband des Empirekleides hing. Jago trug keinen BH. Martin überlegte, ob sie eine Sekretärin beim Architekturverein oder eine Fabrikarbeiterin bei Lightwatch war, Letzteres erschien ihm wahrscheinlicher. Er war noch nie in einer Fabrik gewesen.
    Der Gruppenleiter zeigte auf die kreisrunden Fenster der Behandlungs- und Patientenzimmer, die zum Innenhof wiesen.
    »Die Anordnung der Stationsflure an den Seiten der Halle soll an den Kreuzgang eines Klosters erinnern und vermittelt die Stimmung von Einkehr und Erkenntnis in die Moderne. Der Grundriss von Vorhalle und Innenhof hat übrigens die Form eines Schlüssellochs.«
    Als sie in den Fahrstuhl am Kopf der Halle stiegen, stellte sich Martin neben Jago, sie rückte nicht ab, ihre Hüfte war hoch und warm. Er spürte, wie der Stoff ihres Kleides ein Stück nach oben rutschte und an ihrer schweißnassen Haut hängen blieb, und er war weniger erregt als traurig, er wusste selbst nicht, worüber. Die Fahrstuhltür öffnete sich jeweils zum Aufenthaltsraum, der zwischen zwei Stationsfluren lag und einen spektakulären Blick in die Landschaft bot. Während sie mit der Gruppe durchs Gebäude wanderten, blieb Jago in Martins Nähe, als hätte die kurze Berührung im Fahrstuhl sie an ihn gebunden.
    Ganz oben war der Aufenthaltsraum zwischen den Stationen kleiner als in den unteren Stockwerken, denn nach hinten hin waren ein Fitnessraum und ein Raucherzimmer abgeteilt. Deswegen hatte der Raum keine Fenster, aber dafür ein imposantes Dach aus Glasolexkuppeln, die von Neonröhren umrandet waren. Die Patienten hätten den Himmel sehen können, aber sie saßen in ihren bunten Kunststoffsesseln und starrten geradeaus auf die Fahrstuhltüren. Eine Alte mit Bartstoppeln machte Mümmelbewegungen mit dem Mund, eine Vietnamesin starrte mit leeren Augen vor sich hin, und ein junges Mädchen mit griechischer Nase sang unvermittelt los.
    »Dies ist der Kapitelsaal«, sagte der Gruppenführer. »Nicht zufällig liegt die psychiatrische Abteilung im obersten Stockwerk – zum Zeichen dafür, wie nah sich das Seelische und das Spirituelle doch sind. Sie sehen, wie durch die Anordnung der Dachfenster und durch das Lichtdesign der Eindruck eines transparenten Gewölbes entsteht. Eine Synthese aus Expressionismus und Romanik, mit einem Schuss ›Odyssee 2001‹. Wohl selten war sich die Jury des Berliner Architekturvereins so einig über ihren Preisträger wie in diesem Jahr. Und damit sind wir am Ende unserer Führung.«
    Die Gruppe klatschte. Einige warfen verlegene Blicke auf die verrückten Patienten in den Sesseln, die weiterhin auf die Fahrstuhltüren starrten. Martin wurde noch trauriger. Jago, das sah er, war erloschen, sie war ein brandgeschatzter Wald. Übrig geblieben war etwas Kindliches. Doch die Freiheit zuckte in ihrem Gesicht und rumpelte in ihrem Lachen, und Martin wollte sie haben, er wollte davon etwas haben.
    Sie folgte ihm durchs Treppenhaus nach unten, ohne dass er sie aufgefordert hätte. Er nahm sie auf dem Parkplatz der Cardea, im Auto. Hinterher fühlte er sich getröstet, auch wenn er nicht wusste, wofür. Während sie rauchte, dachte er: Bin ich ein Brandstifter, wenn es den Wald, den ich anzünde, gar nicht mehr gibt?
    Als Martin fünf Monate später wieder aus dem Fahrstuhl in den Aufenthaltsraum der fünften Etage trat, starrten ihn die Patienten in den bunten Kunststoffsesseln an wie damals. Einige glaubte er wiederzuerkennen. Inzwischen wusste er, dass die Station zweigeteilt war in die 5A für Privatpatienten und die geschlossene 5B für Kassen- und Akutpatienten. Auf der Station der Kassenpatienten hatten die Zimmer vier Betten, aber auf der Privatstation gab es großzügige Ein- und Zweibettzimmer mit Flachbildfernsehern, und die Patienten hatten Zugang zum Wintergarten im Nordturm. Den Kassenpatienten stand nur der fensterlose Raum vor den Fahrstühlen zur Verfügung. Durch die Glastür des Raucherzimmers drang senfgelbes Licht. Die Patienten rührten sich kaum, die Luft schien an ihnen hängen zu bleiben. Auch die Frau mit dem verrutschten Kopftuch hatte den Stillstand in ihrem Körper gespeichert, obwohl sie plötzlich auf Martin
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