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Teufelsberg: Roman (German Edition)

Teufelsberg: Roman (German Edition)

Titel: Teufelsberg: Roman (German Edition)
Autoren: Sophie Dannenberg
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zustürmte.
    »Vater!«, schrie sie und warf sich auf ihn. Sie roch nach Schweiß, vorn aus dem Kopftuch hingen strähnige Haare. »Vater! Vater!«
    Sie packte Martins Hände und bedeckte sie mit Küssen. Dann sah sie auf. Ihr Gesicht zeigte keine Mimik, es war zu verquollen.
    Am Tresen erhob sich ein hübsches Mädchen mit kurzen Haaren und eilte herbei, es war die Praktikantin, Jennifer, sie hatte fast immer Empfangsdienst. Sie trug geflochtene bunte Bändchen um die Handgelenke.
    »Lassen Sie das, Frau Baran«, sagte sie und zog die jammernde Frau am Arm. »Oder wollen Sie wieder auf die Station?«
    Sie wies auf die Panzerglastür der 5B. Dahinter erstreckte sich ein Flur in der Farbe gefrorener Magermilch. Wer reinwollte, musste klingeln, wer rauswollte, musste die Ärzte fragen. Dann drückte die Stationswache auf einen Knopf, und während es schrill zu piepen begann, öffnete sich die Tür. Jetzt blieb sie zu, von innen presste ein Mann seinen Körper gegen das Glas. Der Saum seiner Hose war ausgefranst, er trug keine Strümpfe in seinen braunen Lederschuhen.
    »Tut mir leid, Herr Dr. Berger«, wandte sich die Praktikantin an Martin. »So macht das Frau Baran mit jedem älteren Herrn.«
    »Schon vergessen«, sagte er.
    Die Praktikantin führte Frau Baran an einen der Tische und drückte sie auf den Stuhl. Frau Barans Beine, umhüllt von einem auberginefarbenen Mantelkleid, quollen seitwärts über die Sitzfläche, und sie streckte die Hände nach Martin aus.
    »Das Stationsessen hat schon angefangen«, sagte die Praktikantin zu ihm. »Sie kennen den Weg? Aber schließen Sie bitte die Tür, sonst folgt Ihnen wieder jemand. Die Kassen wollen ja dauernd in den Wintergarten.«
    »Die Kassen?«, fragte Martin.
    »Die Kassenpatienten.«
    Der Flur der 5A war, wie auch der Aufenthaltsraum, von Glasolexkuppeln überwölbt, Martin sah über sich die ersten Sterne zwischen den Wolken. Der Fußboden war nicht weiß wie auf der 5B, sondern aus einem glänzenden, kadmiumgelben Epoxidharz, vor dem die glatt geschliffenen Betonwände weniger nackt als edel wirkten. Den Wintergarten im Nordturm erreichte Martin über eine kleine Treppe. Der Raum bestand fast nur aus runden Fenstern. Von hier aus konnten die Privatpatienten sowohl den Sonnenuntergang über der Havel betrachten als auch die Lichter der Stadt, dazwischen die bewaldete Nacht. Das entspiegelte Material dehnte den Raum ins Dunkle aus. Ein paar Fledermäuse flogen draußen vorbei wie verbrennende Zigarettenpapiere. Irgendwo ging der Dunst über der Stadt in ein Wolkengemenge über. Hin und wieder löste sich ein Wolkenfetzen, trieb nach oben und verschwand. Der Wintergarten lag in einem metallischen Licht. Auf die Palmen in ihren braunen Hydrokulturtöpfen richteten sich die Strahlen kleiner Halogenleuchter.
    Von den Patienten blickte keiner nach draußen. Alle, drei Männer und vier Frauen, sahen nur auf ihre Teller und die Tassen, aus denen die Schilder von Teebeuteln hingen. In der Mitte des Tisches stand eine Schüssel mit rotem Heringssalat, eine Wurst- und eine Käseplatte und ein Teller mit heißen Würstchen. Dazwischen lagen zwei Packungen Tütenbrot und einige kleine grüne Äpfel, über allem hing der Geruch von Hagebuttentee, und irgendjemand stank nach Nikotin. Außer den leisen Kaugeräuschen und dem Gleiten der Buttermesser auf den Brotscheiben war nichts zu hören. Ein Mädchen mit langen schwarzen Haaren starrte Martin an, ihr Blick unter dem dicken Pony war zornig.
    »Du Schwein«, sagte das Mädchen.
    Keiner reagierte. Das Mädchen aß weiter, als hätte sie selbst nichts gehört. Ihre Arme waren voll halb verheilter Schnittwunden. Neben dem Mädchen saß Sylvia, auch sie ignorierte die Beschimpfung.
    Draußen trieb der Mond mit seinem fleckigen Segel durch die Nacht.
    »Sylvia?«, fragte Martin, und alle sahen gleichzeitig auf.
    »Hallo Martin«, sagte Sylvia. »Willkommen in der ersten Klasse.«
    Nach dem Essen, auf dem Weg in Sylvias Zimmer, lief ihnen ein kleiner alter Mann hinterher.
    »Hallo?«, rief er, »hallo?«
    Sie blieben stehen.
    »Friedrich«, sagte Sylvia mit ihrer lieben, hohen Stimme, »soll ich dich auf dein Zimmer bringen?«
    Der alte Mann entgegnete nichts, trat auf Martin zu, und plötzlich holte er aus und schlug zu. Es war kein fester Schlag, die zittrige Faust rutschte an Martins Nase ab und streifte die Wange, aber Martin schrie kurz auf.
    »O Gott«, rief Sylvia, »tut es weh?«
    »Gar nicht«, sagte Martin.
    Die
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