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Teufelsberg: Roman (German Edition)

Teufelsberg: Roman (German Edition)

Titel: Teufelsberg: Roman (German Edition)
Autoren: Sophie Dannenberg
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Sphäre tatsächlich zerstörte und dass dieser Moment ihn enttäuschte.
    Als er sich den Satz mit der Zeitung sagen hörte, sah er an Sylvias Ohren, dass sie ihn verstand, und jetzt erst begriff er, was sie damals gemeint hatte. Die Ohren waren plötzlich eleganter als der Rest des Körpers. Sie erinnerten an restaurierte Teile einer verwitterten Skulptur, an die Sylvia, die er kannte und die ihm immer mehr weggebröckelt war. Noch immer lag sie am Boden und schlug sich, aber ihr Stöhnen war leiser geworden, und die Fäuste hatten sich leicht geöffnet.
    Martin zog seinen Mantel aus und hängte ihn an den Haken.
    »Ich kann die Sphäre deiner Ohren wahrnehmen«, flüsterte er. »Ich weiß, dass du wieder da bist.«
    Sylvia wurde still.
    »Komm, Sylvie«, sagte Martin. »Lies mir aus der Zeitung vor.«
    Den Salon der Wohnung hatte Martin dunkelgrün streichen lassen, nach dem Vorbild des Queen’s College. Da der Salon nur ein schmales Fenster zum Hof hatte, wurde er auch am Tag nicht hell. Die Lampen bildeten Inseln aus Licht, an deren Strände die Dämmerung stieß.
    Sylvia saß am großen Biedermeiertisch. Sie erinnerte Martin an ein Bild von Strozzi, ein Porträt der Heiligen Katharina kurz vor ihrer Hinrichtung. Die Verurteilte hatte den Kopf zur Seite sinken lassen und sah nach unten, die Augen waren gebrochen oder erfüllt, vielleicht beides.
    Sylvia las vor, Martin hörte sie kaum.
    »Etwas lauter bitte«, sagte er.
    Sie brach in Schluchzen aus, fing sich wieder und las weiter, erst deutlich, dann wieder leise.
    Martin hielt den Atem an, sein Herz klopfte.
    »Lauter«, murmelte er flehentlich.
    An Sylvias Nase, dort, wo der kleine Höcker war, hatte sich ein dunkelroter Fleck gebildet. Eine Weile erkannte Martin noch die Heilige Katharina mit jenem Blick aus sanftem Blei. Mit der Zeit wurden die Züge um Sylvias Augen gröber und fleischiger – eine Schwellung begann sich auszubreiten. Martin begriff nichts von dem, was Sylvia vorlas, nur manchmal nahm er einzelne Worte auf.
    »Ich kann nicht mehr«, sagte Sylvia schließlich.
    Sie stand auf und ging in die Küche, wohin er ihr nach einer Weile folgte. Sie warf eine Aspirin in ein Glas Wasser. Das Sprudeln der Tablette klang digital.
    Martin schloss die Augen. Er war in einer Zwischenwelt gefangen, in der es keinen Ausdruck gab, nur Sachen. Als er die Augen wieder öffnete, sah er Sylvia am Küchenfenster stehen, das geleerte Glas in der Hand. Das Tablettenpulver hatte eine stumpfe Schicht am Glasrand zurückgelassen.
    »Ich bringe dich in die Cardea«, sagte er.
    »Zu diesem Vosskamp?«, fragte sie.
    »Ja. Er soll gut sein.«
    Als alles erledigt war, begann es schon zu dämmern. Er fuhr den Berg hinunter, auf die Heerstraße. Die Laternen standen wie große Buchstaben an der Straße. Aus den drei Schornsteinen des Heizkraftwerkes in der Ferne kam pulsierender Rauch. Es hatte getaut, nur am Straßenrand lagen noch schwarze, poröse Schneeplatten. Martin dachte noch immer an den Moment, in dem er in druckreifen Sätzen gedacht hatte. Aber er konnte sich nicht mehr an den Inhalt erinnern, er war zu müde, um den losen Enden seiner Gedanken zu folgen, die irgendwo im Dunkeln hingen. Er öffnete das Fenster und ließ den kalten Fahrtwind herein.
    Das Handy klingelte. Es war Sylvia.
    »Geht es dir besser?«, fragte er und fuhr an den Rand.
    »Wo bist du?«, wollte sie wissen.
    »Alles in Ordnung, Sylvia?«
    »Ja, ja, aber wo bist du?« Sie klang angespannt.
    »Auf der Heerstraße. Ist das wichtig?«
    »Warum bestimmst immer du, was wichtig ist?«, schrie Sylvia.
    »Ich wollte dich doch nur beruhigen.«
    Sie sagte nichts, er lauschte dem Rauschen im Äther, in dem irgendwo das Schweigen und die Wut seiner Frau verborgen und auf rätselhafte Art mit ihm verbunden waren.
    »Sag doch was«, bat er.
    »Das hat alles überhaupt keinen Zweck. Ich lege jetzt auf.«
    »Nein, lege nicht auf. Nicht.«
    Er hörte das Tuten im Hörer. Dann kam das Tuten von allen Seiten, und es dauerte einige Augenblicke, bis Martin merkte, dass er den Verkehr blockierte. Er fuhr los.
    Tuten, hupen, dachte er. Tuten, hupen.
    Die Straßen waren glatt, er rollte dahin und fand den Weg anhand des spezifischen Schwungs, den sein Auto nehmen musste. Als Kind hatte er Rennen veranstaltet, seine Murmeln waren Porsche. Zwischendurch kamen die Murmeln in Streichholzschachteln, die als Boxenstopps dienten. Martin reparierte die Autos, wechselte die Reifen, tankte, prüfte die Bremsen, sprach ein Wort
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