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Teufelsberg: Roman (German Edition)

Teufelsberg: Roman (German Edition)

Titel: Teufelsberg: Roman (German Edition)
Autoren: Sophie Dannenberg
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Die Autobahnbraut
    A m Montag, dem 17. Januar 2011, verlor Martins Frau den Verstand.
    Er selbst erlebte das als Komödie, aus der die Komik entwichen war und nur eine entstellte Hülle zurückließ. Er wunderte sich, dass er in diesem Moment nichts für seine Frau empfand, aber am ganzen Körper zitterte.
    Er stand in der Diele, die Zeitung in der Hand, und sah, wie sich Sylvia selbst schlug. Sie lag auf dem geölten Kirschparkett und schlug sich mit beiden Fäusten ins Gesicht. Aus dem Dachfenster fiel Licht auf die Szene. Er dachte an eine Zirkusnummer, in der ein Clown einem anderen eine Plastikfliege am Band ins Gesicht hielt, bis dieser sich Ohrfeigen gab, immer heftiger und schneller, und das Publikum immer lauter lachte. Auch Sylvia stieß Geräusche aus, die wie Lachen klangen, aber härter. Sie war Publikum und Clown zugleich, und es fehlte nur die Fliege, um das, was sie tat, zu erklären.
    Martin ließ die Zeitung nicht fallen, er griff nicht nach Sylvias Händen und hielt sie nicht fest, er stand einfach da, in seinem Greatcoat. Er starrte in ihr entstelltes Gesicht mit den stumpfen, wirbelnden Haaren. Die Geräusche, die sie ausstieß, verwandelten sich in das Schreien einer gemarterten Katze. Zugleich klang das Schreien geil, aber nicht nach den Lauten, die Martin von seiner Frau oder überhaupt von einer Frau kannte.
    Er schwitzte in seinem Mantel, die Achseln begannen zu jucken, und eine Sekunde lang überlegte er, zu gehen. Er sah auf den Türgriff, dann auf den Garderobenhaken. Ihm fiel auf, dass beide auf eine sterile Art glänzten. Er fragte sich, warum das Wesen auf dem Teppich, das sich hin- und herwälzte und dabei wie eine kubistisch verdrehte Figur Teile seiner Frau zur Schau stellte, ihn so entsetzte. Er erkannte die schwarze herabrutschende Hose und die Gesäßfalte, einen aufgerissenen Mund und rotbraune Haare, die sich in den Mundwinkeln verfangen hatten, als würde ein Bart aus dem Zahnfleisch wachsen, und er hasste sich für das, was er sah. Obwohl Martin Berger, der Patentanwalt, nicht zu philosophischen Ideen neigte, dachte er plötzlich in druckreifen Sätzen. Komik, Sex und Wahn, dachte er, sind einander so nah, weil sie alle drei zur Entmenschlichung führen. Die Komik macht den Menschen zur Maske, der Sex zum Tier, der Wahn zum Gespenst. Darum war seine wahnsinnige Frau komisch, darum klang ihr Wimmern so sexuell, darum fürchtete er sich.
    Vor Martins innerem Auge stand ein Nebel aus Teer, schweres, schwarzes Geflimmer, das sinnlos in der Luft hing, bodenlos. Dort war seine Frau. Darüber schwebte eine glatte, dünne Scheibe, die eintönig glänzte, ähnlich wie der Türgriff und der Garderobenhaken. Dort war er.
    Diese Scheibe, dachte er, ist alles, was uns Halt gibt. Wenn ich meiner Frau helfen möchte, darf ich mich nicht in die Tiefe begeben, ich muss an der Oberfläche bleiben.
    Er räusperte sich, als wolle er an einem Rednerpult um Ruhe bitten. Dann sagte er zu seiner Frau: »Würdest du mir bitte aus der Zeitung vorlesen?«
    Sylvia hatte ihm einmal erzählt, wie sie bei einem Konzert in der Philharmonie einen Klassenkameraden nach zwanzig Jahren wiedererkannt hatte – von hinten, an seinen Ohren. »Genauer gesagt, an der Sphäre seiner Ohren«, hatte sie hinzugefügt, und Martin hatte gelacht. Aber sie bestand darauf, an der Sphäre der Ohren nicht nur den Klassenkameraden erkannt zu haben, sondern auch seine Einsamkeit.
    »Das funktionierte natürlich nur, weil ich in der Schule jahrelang hinter ihm gesessen hatte«, sagte sie. »Ich konnte an seinen Ohren sehen, ob er die Hausaufgaben vergessen hatte oder ob er sich langweilte. Einmal konnte ich erkennen, dass er unglücklich war.«
    Martin lachte: »Solche Ohren gibt es nicht.« Er stellte sich pulsierende Knollen vor.
    »Die Ohren waren nicht besonders«, sagte Sylvia. »Sie bewegten sich nicht und wurden nicht rot. Sie veränderten nur ihren Ausdruck.«
    »Wie sollen Ohren etwas ausdrücken? Sie haben keine Mimik, da ist nur Knorpel mit Haut.«
    »Sie kompensierten eben die fehlende Mimik durch ihren sphärischen Ausdruck.«
    »Unsinn«, sagte Martin, »Ohren haben keine Sphäre, Gesichter haben Sphäre. Dein Gesicht hat eine Sphäre.«
    »Gesichter haben nur eine Sphäre, wenn sie unbewegt sind. Wenn sie die Knorpelhaftigkeit der Ohren nachahmen.«
    Sylvia zog eine fröhliche Grimasse. »Habe ich jetzt noch eine Sphäre? Wohl kaum, oder?«
    »Und ob«, sagte er, obwohl er sich eingestand, dass ihre Grimasse die
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