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Tante Dimity und der unheimliche Sturm

Tante Dimity und der unheimliche Sturm

Titel: Tante Dimity und der unheimliche Sturm
Autoren: Nancy Atherton
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Statuen hindurchschritten, knipsten wir sie an. Die Pforte des Mausoleums war kunstvoll behauen mit einem Muster, wie man es auf Beduinentüchern sieht. Wendy beugte sich hinab, um das Schloss zu inspizieren, trat etwas zurück, ergriff den Knauf und zog daran. Es war, als ob eisige Finger mein Gesicht streiften, als die Tür sich nach außen öffnete.
    Leise wie körperlose Geister schritten wir über die Schwelle und in einen kleinen Vorraum, der von weißen Marmorbänken gesäumt war. Dann betraten wir eine Kammer, die offensichtlich erbaut war, um weitaus mehr Generationen DeClerkes aufzunehmen als jene drei, die es letzten Endes gewesen waren. Die Wände waren aus weißem glattem Marmor, und darüber wölbte sich eine spitz zulaufende Decke.
    In der Mitte teilten sich Grundy und Rose ein Grab. Ihre weißen, in Marmor gehauenen Abbilder, die in mittelalterliche Gewänder gehüllt waren, lagen Seite an Seite auf dem weißen Sarkophag, die Hände zum Gebet gefaltet und die Gesichter gen Himmel gerichtet. An der Wand links davon waren drei Gedenktafeln angebracht, die an drei ihrer Söhne erinnerten. Die in Goldlettern gehaltene Inschrift pries ihre Tapferkeit und verwies auf ihre unbekannten Gräber auf den Schlachtfeldern in Flandern und Nordfrankreich.
    Lucastas Mutter und Vater hatten keine Skulpturen auf den Sarkophagen. Ihre sterblichen Überreste lagen in schlichten, länglichen Särgen, in die nur ihre Namen über ihren Geburtsdaten und denen ihres allzu frühen Todes eingraviert waren. Ebenso schmucklos war Lucastas Grab, abgesehen von ein paar frischen Rosmarinzweigen.
    »In Gedenken«, murmelte ich und rief mir die Kräutertöpfe in Catchpole Cottage ins Gedächtnis zurück.
    In die Wand über Lucastas Sarg war eine vierte Gedenktafel eingelassen. Die Lichtkegel unserer Taschenlampen trafen sich wie Suchscheinwerfer darauf und beleuchteten die merkwürdige Inschrift:

    P. P. DECLERKE, ESQ.
    1897-1940

    Als ich die verräterischen Initialen und die Lebensdaten las, weinte ich fast vor Erleichterung.
    Ich würde also meine Nerven nicht auf die Probe stellen müssen.
    »1897«, sagte ich mit bebender Stimme. »Das diamantene Jubiläum von Königin Victoria. Das erste Mal, als Rose die Parure trug.«
    »1940.« Jamies gedämpftes Geflüster hallte unheimlich in der Gruft wider. »Dünkirchen und die Hochzeit, die nie stattgefunden hat.«

    Wendy legte das Stemmeisen auf den Boden und fuhr mit der Fingerspitze über den Rand der Platte.
    »Sie lässt sich öffnen«, sagte sie und zog energisch daran.
    Die Platte schwang auf und enthüllte einen Hohlraum, der eine leuchtend weiße Marmorschatulle mit goldenen Scharnieren barg. Während Jamie die Schatulle aus der Nische holte, reichte ich Wendy das in braunes Packpapier gehüllte Bündel und trat zurück. Dieser Moment gehörte ihnen allein, und ich wollte sie nicht stö ren.
    Jamie stellte die Schatulle auf Lucastas Sarg, hob den Deckel und hielt inne.
    »Es ist ein Umschlag darin.« Seine verblüfften Worte hallten von den glatten Wänden wider. Er nahm den elfenbeinfarbenen Umschlag und hielt ihn ins Licht.
    Ein Wort stand darauf. Sogar aus der Entfernung erkannte ich die regelmäßige, runde Handschrift, obwohl ich sie nur einmal gesehen hatte.
    »›Danke!‹«, las Jamie vor.
    Als er einen Bogen elfenbeinfarbenen Briefpapiers entfaltete, trat ich unwillkürlich an seine Seite, um die Botschaft aus dem Jenseits zu lesen: Wer immer Sie sind und wo immer Sie herkommen , danke ich Ihnen dafür , dass Sie mir meinen Schatz zurückbringen . Sie und ich wissen nun beide , was vor vielen , vielen Jahren tatsächlich geschah . Wenn Sie es nicht wüssten , würden Sie diese Zeilen nicht lesen , und ich weiß es , weil ich an einen Ort gegangen bin , wo es keine Geheimnisse gibt .
    Ich stelle Sie mir vor als einen jungen Mann , den Sohn oder Enkel , der sich bemüht , eine schmerzvolle Wahrheit zu verkraften . Erinnern Sie sich jedoch immer daran , dass es nicht die ganze Wahrheit ist . Ein Mensch sollte nicht allein anhand seiner Verfehlungen beurteilt werden . Wo Liebe war , möge stets Liebe sein . Das ist eine Lektion , die eine alte , todgeweihte Frau zu spät gelernt hat . Ich hoffe , dass Sie weiser sein werden , als sie gewesen ist .
    Lucasta Eleanora DeClerke

    Jamie starrte lange auf den Brief, ihn immer wieder lesend, so als wollte er sich jeden Strich und jeden Schnörkel dieser Schrift für immer einprä gen. Dann faltete er den Briefbogen zusammen und
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