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Tannöd

Tannöd

Titel: Tannöd
Autoren: Andrea Schenkel
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vertrieben
worden.
    Noch heute sieht sie ihren Vater
vor sich. Ihren Vater, den sie so geliebt hatte. Spürte seine
Hände auf ihrem Körper, diese tastenden
Hände.
    Ganz steif war sie dagelegen.
Unfähig, sich zu bewegen. Erstarrt. Hatte nicht gewagt zu
atmen. Die Augen fest geschlossen, war sie in ihrem Bett gelegen.
Nicht glauben wollend, was mit ihr geschah. Der Atem des Vaters auf
ihrem Gesicht. Sein Stöhnen in ihrem Ohr. Der Geruch des
Schweißes. Der Schmerz, der ihren Körper erfüllte.
Sie hielt die Augen geschlossen, fest geschlossen. Solange sie
nichts sah, konnte nichts geschehen. »Geschehen kann nur, was
ich auch sehe«, hatte sie sich gedacht.
    Am anderen Morgen war ihr Vater
wie immer. Wochenlang passierte nichts. Sie hatte das Geschehene
schon fast vergessen. Hatte den Geruch ihres Vaters vergessen, den
Geruch nach Schweiß, das Stöhnen, die Gier
verdrängt. Alles lag hinter einem dichten Nebel.
    Sie wollte immer eine »gute
Tochter« sein. Nur eine »gute Tochter« wollte sie
sein, Vater und Mutter ehren. Wie es der Pfarrer im
Religionsunterricht von ihnen verlangte. Alles, was der Vater tat,
war richtig. Er war das Zentrum ihres Lebens, der
»Herrgott« auf dem Hof. Nie hatte sie gesehen, dass einer
ihm widersprach, sich ihm widersetzte. Die Mutter tat es nicht. Sie
konnte es auch nicht tun.
    Mit der Zeit wurden die
Abstände seines Kommens kürzer. Immer öfter
drängte er sich des Nachts in ihr Bett. Ihre Mutter schien
nichts von alledem zu bemerken. So blieb sie stumm. Stumm wie sie
immer gewesen war, solange sich Barbara erinnern konnte. Keiner
bemerkte etwas.   
    Mit der Zeit gewann Barbara den
Eindruck, dass das Handeln ihres Vaters richtig und ihr Ekel vor
ihm falsch war. Ihr Vater liebte sie doch, nur sie. Sie wollte
dankbar dafür sein, eine gute Tochter sein. Wie in der
Geschichte von Lot und seinen Töchtern. Lot, der geflohen war
aus der Stadt Babel und mit seinen Töchtern in die Wildnis
gezogen war. Dort legte sich Lot zu seinen Töchtern und beide
gebaren ihm Kinder.
    So stand es doch in der Bibel.
Warum, so fragte sich Barbara, sollte das, was bei Lot
gottgefällig, bei ihr falsch sein. Sie war eine gute Tochter.
Zweimal gebar sie ihrem Vater ein Kind. Zweimal ließ sie sich
dazu überreden, einen anderen Mann als Kindvater
anzugeben.
    Der erste, der Vinzenz, kam gleich
nach dem Krieg auf ihren Hof. Er kam als Flüchtling aus dem
Osten, war froh über die Arbeit auf dem Hof und ein Dach
über dem Kopf.
    Es fiel ihr leicht, diesem Mann
schöne Augen zu machen und als sie ihm von ihrer
Schwangerschaft erzählte, war er sofort bereit, sie zu
heiraten. Er sah Hof und Geld.
    Als ihr Mann kurz nach der Heirat,
noch ehe Marianne geboren wurde, hinter die wahre Vaterschaft kam,
drohte er, sie alle ins Gefängnis zu bringen. Ihr Vater gab
ihm eine größere Menge Geld, mit diesem Geld könne
Vinzenz in die Stadt gehen oder gar auswandern, hat er ihm
gesagt.
    Vinzenz willigte ein, ließ
sich kaufen und verließ den Hof bei der ersten
Gelegenheit.
    Wo er geblieben ist? Sie weiß
es nicht, es war ihr auch gleichgültig. Sie hatte durch den
Handel einen Vater für ihr Kind.
    Das Leben auf dem Hof ging
weiter.
    Als sie erneut schwanger wurde und
diesmal kein Mann, der in den Augen der Öffentlichkeit die
Vaterschaft übernehmen konnte, zur Stelle war, kam ihr Vater
auf die Idee, dem Hauer das Kind anzuhängen. Der Hauer war
damals erst Witwer geworden. Für Barbara war es eine
Leichtigkeit, diesen Mann zu verführen. Der »alte
Depp« nahm ihr die Geschichte mit der Leidenschaft sofort ab.
Barbara musste laut lachen. Männer waren doch leicht hinters
Licht zu führen. Schwierig wurde es erst, als der Hauer auf
eine Hochzeit drängte. Sie sollte den Vinzenz ausfindig machen
und eine Scheidung beantragen. Oder ihn besser noch gleich für
tot erklären lassen. Das könne man machen, er kenne
»die Richtigen«, für ein Handgeld wäre alles
möglich.
    Ihre Ausflüchte wurden immer
größer, bis es schließlich zum Bruch kam.
    Keine Ruhe ließ ihr der Kerl.
Nächtelang stand er vor dem Fenster ihrer Kammer. Klopfte,
bettelte eingelassen zu werden.
    Er lauerte Barbara sogar auf,
bedrängte sie, sich erneut mit ihm einzulassen.
    Barbara ekelte sich vor diesem
Mann. Genauso wie sie sich immer vor ihrem Vater geekelt hatte. Je
älter sie wurde, desto weniger wollte sie eine gute Tochter
sein. Ihr Abscheu vor ihrem Vater und Männern insgesamt nahm
immer mehr zu.
    Sie waren alle gleich in ihrer
Gier,
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