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Tangenten

Tangenten

Titel: Tangenten
Autoren: Greg Bear
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Wiedersehen und hängte ein. »Sie schwimmen immer in diesem Informationsbad. Tragen ihr Teil dazu bei. Es ist eine Gestaltsache oder irgend sowas in der Art. Die Hierarchie ist absolut. Den Zellen, die nicht richtig interagieren, schicken sie maßgeschneiderte Bakteriophagen hinterher, Viren, die auf Individuen oder Gruppen spezialisiert sind. Da gibt’s kein Entrinnen. Man wird vom Virus durchbohrt, die Zelle bläht sich nach außen, explodiert und löst sich auf. Aber es ist nicht einfach nur eine Diktatur. Ich glaube, sie haben effektiv mehr Freiheit als in einer Demokratie. Ich meine, sie sind alle individuell so verschieden. Ergibt das einen Sinn? Sie unterscheiden sich auf andere Weise als wir.«
    »Hör auf!« sagte ich und packte seine Schultern. »Vergil, du treibst mich an den Rand des Wahnsinns. Ich halt das nicht mehr lange aus. Ich versteh dich nicht, und ich weiß nicht, ob ich dir glaube…«
    »Nicht mal jetzt?«
    »Okay, mal angenommen, du gibst mir die… die richtige Interpretation. Und zwar ohne Umschweife. Die ganze Geschichte ist wahr. Hast du dir schon mal die Mühe gemacht, dir die ganzen Konsequenzen zu überlegen? Was das alles heißt und wohin es möglicherweise führt?«
    Er ging in die Küche und ließ sich ein Glas Wasser einlaufen, kam dann zurück und blieb dicht vor mir stehen. Seine Miene hatte sich geändert; kindliche Begeisterung war nüchterner Besorgnis gewichen. »Darin war ich noch nie sehr gut.«
    »Hast du keine Angst?«
    »Doch, hatte ich. Jetzt weiß ich’s nicht mehr so recht.« Er fummelte am Gürtel seines Hausmantels herum. »Hör mal, ich möchte nicht, daß du denkst, ich hätte dich übergangen oder so. Aber ich hab mich gestern mit Michael Bernard getroffen. Er hat mich in seiner Privatklinik durchgecheckt und Proben genommen. Er hat mir gesagt, ich soll mit den Bestrahlungen aufhören. Hat heute morgen angerufen, kurz vor dir. Er meint, es sei alles klar. Und er hat mich gebeten, niemand was davon zu sagen.« Er hielt inne und machte wieder ein verträumtes Gesicht. »Städte aus Zellen«, fuhr er fort. »Edward, sie stoßen Haarkapillaren durchs Gewebe, geben Informationen weiter…«
    »Schluß jetzt!« rief ich. »Alles ist klar? Was denn?«
    »Nach Bernards Worten hab ich ›stark vergrößerte Makrophagen‹ im ganzen Körper. Und er hat dieselben anatomischen Veränderungen festgestellt. Also ist es nicht so, daß wir beide uns bloß was eingebildet haben.«
    »Und was hat er nun vor?«
    »Weiß ich nicht. Ich denke, er wird wahrscheinlich Genetron überreden, das Labor wieder aufzumachen.«
    »Willst du das denn?«
    »Es geht nicht nur darum, das Labor wiederzukriegen. Ich will dir was zeigen. Was passiert ist, seit ich mit den Bestrahlungen aufgehört habe. Ich verändere mich immer noch.« Er öffnete seinen Hausmantel und ließ ihn zu Boden gleiten. Seine Haut war am ganzen Körper kreuz und quer von weißen Linien überzogen. An seinem Rücken begannen die Linien Wülste zu bilden.
    »Mein Gott«, sagte ich.
    »Ich werd bald nur noch im Labor zu irgendwas gut sein und mich draußen nicht mehr sehen lassen können. Wie gesagt, im Krankenhaus wüßten sie gar nicht, was sie tun sollten.«
    »Du bist… du kannst doch mit ihnen reden und ihnen sagen, sie sollen’s langsamer angehen lassen.« Ich merkte, wie lächerlich das klang.
    »Ja, kann ich tatsächlich, aber sie hören nicht unbedingt drauf.«
    »Ich dachte, du wärst ihr Gott oder sowas.«
    »Diejenigen, die an meinen Neuronen hängen, sind nur kleine Rädchen. Die sind Forscher oder erfüllen zumindest die gleiche Funktion. Sie wissen, daß ich hier bin und was ich bin, aber das heißt nicht, daß sie die höheren Ebenen der Hierarchie auch davon überzeugt haben.«
    »Die diskutieren miteinander?«
    »Sowas ähnliches. Jedenfalls ist es nicht gar so schlimm. Wenn das Labor wieder aufgemacht wird, hab ich ein Zuhause, einen Platz zum Arbeiten.« Er warf einen flüchtigen Blick aus dem Fenster, als ob er nach jemand Ausschau hielte. »Ich hab nur noch sie, sonst nichts. Sie haben keine Angst, Edward. Ich hab mich noch nie jemandem so nahe gefühlt.« Wieder das verklärte Lächeln. »Ich bin für sie verantwortlich. Wie eine Mutter.«
    »Du hast keine Möglichkeit, rauszufinden, was sie tun werden.«
    Er schüttelte den Kopf.
    »Nein, das ist mein Ernst. Du sagst, sie sind wie eine Zivilisation…«
    »Wie tausend Zivilisationen.«
    »Ja, und es ist allgemein bekannt, daß Zivilisationen
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