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Tangenten

Tangenten

Titel: Tangenten
Autoren: Greg Bear
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Kinder hervorgebracht hatten. Ich sah schweigend zu und blieb auch beim Essen stumm.
    Ich hatte zwei Träume, die beide etwas damit zu tun hatten, daß ich es schließlich akzeptierte. Im ersten an jenem Abend – aus dem ich wild um mich schlagend erwachte – sah ich mit an, wie der Planet Krypton zerstört wurde, Supermans Heimatwelt. Milliarden übermenschlicher Genies rannten schreiend in Feuerwände hinein. Ich sah einen Zusammenhang zwischen dieser Zerstörung und der Tatsache, daß ich Vergils Blutprobe sterilisiert hatte.
    Der zweite Traum war noch schlimmer. Ich träumte, daß New York City eine Frau vergewaltigte. Am Ende des Traums gebar sie kleine Embryostädte, allesamt in durchsichtige Beutel gehüllt und blutgetränkt von den heftigen Wehen.
    Am Morgen des sechsten Tages rief ich ihn an. Er nahm beim vierten Klingeln ab. »Ich hab ein paar Ergebnisse«, sagte ich. »Nichts Definitives. Aber ich will mit dir reden. Persönlich.«
    »Klar«, sagte er. »Ich bleibe momentan zu Hause.« Seine Stimme klang angestrengt; er hörte sich erschöpft an.
    Vergils Apartment befand sich in einem schicken Hochhaus in der Nähe des Seeufers. Ich fuhr mit dem Aufzug nach oben, lauschte den kleinen Werbejingles und sah mir tanzende Hologramme an, die Produkte und leerstehende Apartments anpriesen und die Animateurin des Hauses zeigten, die über soziale Aktivitäten in der laufenden Woche redete.
    Vergil machte die Tür auf und winkte mich herein. Er trug einen karierten Hausmantel mit langen Ärmeln und Hausschuhe. In einer Hand hielt er eine nicht angezündete Pfeife. Er spielte mit ihr herum, während er sich schweigend von mir entfernte und sich setzte.
    »Du hast eine Infektion«, sagte ich.
    »So?«
    »Das ist alles, was mir die Blutanalysen zeigen. An die Elektronenmikroskope komm ich nicht ran.«
    »Ich glaube nicht, daß es wirklich eine Infektion ist«, sagte er. »Schließlich sind es meine eigenen Zellen. Wahrscheinlich ist es was anderes… ein Zeichen ihrer Anwesenheit, der Veränderung. Wir können nicht erwarten, daß wir alles verstehen, was da vorgeht.«
    Ich zog meine Jacke aus. »Hör zu«, sagte ich, »du hast es geschafft, daß ich mir Sorgen mache.« Sein Gesichtsausdruck ließ mich innehalten: eine Art wilder Glückseligkeit. Er schaute blinzelnd zur Decke hinauf und schürzte die Lippen.
    »Bist du stoned?« fragte ich.
    Er schüttelte den Kopf und nickte dann einmal sehr langsam. »Ich lausche«, sagte er.
    »Worauf?«
    »Ich weiß nicht. Nicht auf Geräusche… jedenfalls nicht im strengen Sinn. Es ist sowas wie Musik. Das Herz, die ganzen Blutgefäße, die Reibung des Blutes in den Arterien und Venen. Aktivität. Musik im Blut.« Er sah mich traurig an. »Warum bist du nicht bei der Arbeit?«
    »Ich hab heute frei. Gail arbeitet.«
    »Kannst du hierbleiben?«
    Ich zuckte die Achseln. »Glaub schon.« Es klang mißtrauisch. Ich sah mich in dem Apartment um und suchte nach Aschenbechern und Papierstapeln.
    »Ich bin nicht stoned, Edward«, sagte er. »Kann sein, daß ich mich irre, aber ich glaube, daß irgendwas Großes passiert. Ich denke, sie finden gerade raus, wer ich bin.«
    Ich setzte mich Vergil gegenüber hin und sah ihn aufmerksam an. Er schien es nicht zu bemerken. Er war mit etwas beschäftigt, das in seinem Innern geschah. Als ich um eine Tasse Kaffee bat, zeigte er zur Küche. Ich machte Wasser heiß und nahm ein Glas Instantkaffee aus dem Wandschrank. Mit der Tasse in der Hand ging ich zu meinem Sessel zurück. Er drehte den Kopf mit offenen Augen hin und her. »Du hast immer gewußt, was du sein wolltest, oder?« fragte er mich.
    »Mehr oder weniger.«
    »Ein Gynäkologe. Du hast immer das Richtige getan. Nie was Falsches. Bei mir war das anders. Ich hatte Ziele, aber keine Richtung. Wie eine Landkarte ohne Straßen, einfach nur Orte, wo man sein konnte. Mir war alles und jeder scheißegal, nur ich selber nicht. Sogar die Wissenschaft. Nur ein Mittel. Es wundert mich, daß ich so weit gekommen bin. Ich hab sogar meine Familie gehaßt.«
    Er packte die Armlehnen seines Sessels.
    »Stimmt was nicht?« fragte ich.
    »Sie reden mit mir«, erwiderte er. Er schloß die Augen.
    Eine Stunde lang sah es so aus, als ob er schliefe. Ich prüfte seinen Puls, der stark und ruhig war, fühlte ihm die Stirn – ein wenig kühl – und machte mir noch mehr Kaffee. Ich blätterte gerade ein Magazin durch, weil ich nicht recht wußte, was ich tun sollte, als er die Augen wieder aufschlug.
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