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Tangenten

Tangenten

Titel: Tangenten
Autoren: Greg Bear
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»Schwer, sich ein genaues Bild davon zu machen, was Zeit für sie ist«, sagte er. »Sie haben vielleicht drei, vier Tage gebraucht, um die Sprache und menschliche Schlüsselbegriffe herauszubekommen. Jetzt sind sie gerade zugange. An mir. Jetzt, in diesem Augenblick.«
    »Und wie ist das?«
    Er behauptete, an seinen Neuronen hingen Tausende von Forschern. Er konnte keine Einzelheiten angeben. »Sie sind verdammt effizient, weißt du«, sagte er. »Sie haben mich noch nicht kaputtgemacht.«
    »Wir sollten dich sofort ins Krankenhaus bringen.«
    »Was, zum Teufel, könnten die da tun? Ist dir irgendwas eingefallen, wie man sie unter Kontrolle bringt? Ich meine, das sind meine eigenen Zellen.«
    »Ich hab drüber nachgedacht. Wir könnten sie aushungern. Könnten rausfinden, was für metabolische Unterschiede…«
    »Ich weiß nicht recht, ob ich sie überhaupt loswerden will«, sagte Vergil. »Sie richten doch keinen Schaden an.«
    »Woher willst du das wissen?«
    Er schüttelte den Kopf und hob einen Finger. »Warte! Sie versuchen gerade rauszubekommen, was Raum ist. Das ist schwer für sie. Sie lösen Entfernungen in Konzentrationen von Chemikalien auf. Für sie ist Raum so etwas wie Geschmacksintensität.«
    »Vergil…«
    »Hör zu! Denk nur, Edward!« Sein Tonfall war erregt, aber trotzdem gelassen. »Schau doch! In meinem Innern passiert etwas Großartiges. Sie sprechen durch die Flüssigkeit miteinander, über Membranen. Sie schneidern etwas – Viren? – als Träger von Daten zurecht, die in Nukleinsäureketten gespeichert sind. Ich glaube, sie sagen ›RNA‹. Das ergibt einen Sinn. Es ist eine Möglichkeit, die ich ihnen einprogrammiert habe. Aber sie fertigen auch plasmidähnliche Strukturen (* Kleine, ringförmig geschlossene DNA-Stücke, die neben dem eigentlichen Chromosom in der Zelle existieren. – Anm. d. Übers.) an. Vielleicht ist es das, was deine Maschinen für das Anzeichen einer Infektion halten – ihr ganzes Geschwätz in meinem Blut, richtige Datenpakete. Geschmackseindrücke von anderen Individuen. Gleichrangigen. Übergeordneten. Untergeordneten.«
    »Vergil, ich hör dir zu, aber ich finde trotzdem, du gehörst in ein Krankenhaus.«
     
    »Das ist meine Show, Edward«, sagte er. »Ich bin ihr Universum. Sie staunen über die neue Größenordnung.« Er war wieder eine Zeitlang still. Ich hockte mich neben seinen Sessel und zog den Ärmel seines Hausmantels hoch. Sein Arm war kreuz und quer von weißen Linien überzogen. Ich wollte gerade zum Telefon gehen und einen Krankenwagen kommen lassen, als er aufstand und sich streckte. »Ist dir eigentlich klar«, fragte er, »wie viele Körperzellen wir jedesmal töten, wenn wir uns bewegen?«
    »Ich ruf einen Krankenwagen«, sagte ich.
    »Nein, tust du nicht.« Sein Ton ließ mich innehalten. »Ich hab dir doch gesagt, daß ich nicht krank bin. Das ist meine Show. Weißt du, was sie im Krankenhaus mit mir anstellen würden? Es wäre so, als ob Höhlenmenschen versuchten, einen Computer auf dieselbe Weise zu reparieren wie eine Steinaxt. Es wäre eine Farce.«
    »Was, zum Teufel, soll ich dann hier?« Langsam wurde ich wütend. »Ich kann nichts tun. Ich bin einer dieser Höhlenmenschen.«
    »Du bist mein Freund«, sagte Vergil. Er richtete seinen Blick auf mich. Ich hatte den Eindruck, daß ich von mehr als nur von Vergil beobachtet wurde. »Ich möchte, daß du hierbleibst und mir Gesellschaft leistest.« Er lachte. »Wenn ich auch nicht gerade allein bin.«
    Er lief zwei Stunden lang in dem Apartment herum, befingerte Dinge, schaute aus den Fenstern und machte sich langsam und methodisch etwas zu essen. »Weißt du, sie können tatsächlich ihre eigenen Gedanken fühlen«, sagte er gegen Mittag. »Ich meine, das Cytoplasma scheint einen eigenen Willen zu haben, eine Art aktives Unterbewußtsein im Gegensatz zum rationalen Denkvermögen, das sie erst vor kurzem erworben haben. Sie hören das chemische ›Geräusch‹ – oder was immer – der Moleküle, die sich in ihrem Innern anlagern und ablösen.«
    Um zwei Uhr rief ich Gail an, um ihr zu sagen, daß ich später kommen würde. Mir war fast übel von der Anspannung, aber ich versuchte, meine Stimme ruhig klingen zu lassen. »Erinnerst du dich an Vergil Ulam? Ich unterhalte mich gerade mit ihm.«
    »Alles in Ordnung?« fragte sie.
    War es das? Eindeutig nicht. »Bestens«, beruhigte ich sie.
    »Kultur!« rief Vergil und warf einen Blick aus der Küche zu mir herein. Ich sagte auf
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