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Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Titel: Tagebücher 01 - Literat und Europäer
Autoren: Sándor Márai
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abendländischen Menschen angesichts des russischen Messianismus im Moment auch nicht übrig.
    Ich habe seit zwei Wochen Glossitis , eine Art fleckigen Ausschlag auf der Zunge. Sie wird vermutlich von einem Mangel an roten Blutkörperchen verursacht, eine Folge von Neuritis . Noch vor einigen Monaten wäre ich mit diesem Symptom und diesem Befund nervös von einem Arzt zum anderen gelaufen. Jetzt bleibe ich erstaunlich gleichgültig: wie jemand, der nun ein für allemal erkannt hat, dass er irgendwann – so oder so – sterben muss.
    V . schickt mir einen französischen »Rechenschaftsbericht«, den ich noch in der Nacht in einem Atemzug überfliege: Paul Mousset , Le temps travaille pour nous . Der Verfasser ist Verbindungsoffizier zwischen dem französischen und dem englischen Heer. Er wird von Dünkirchen nach England evakuiert.
    Dieses Buch ist Propaganda: Seine eigentliche Bedeutung liegt in der Verzweiflung, mit der sich ein kampferprobter Franzose dem Schicksal seiner Heimat zuwendet und die dortige Korruption, Desorganisation, Habgier geißelt. Diese Vorwürfe sind berechtigt. Eine ganz andere Frage ist, worin die Aufgabe der Franzosen hier auf Erden besteht. Sie mussten Hitler wie eine Plage des Schicksals über sich ergehen lassen. Ihre Aufgabe besteht nicht darin zu kämpfen, den habgierigen Imperialisten zu spielen, nein. Sie besteht darin, ihrer Rolle entsprechend zu denken und zu schaffen. Sparta hat der Welt nur hirnlose Kraftpakete geschenkt und ging schließlich zugrunde; Athen lebt und wirkt noch heute. Mag sein, dass die Franzosen jetzt Teile ihres Kolonialreichs verlieren, dafür gewinnen sie aber ihre eigentliche Rolle zurück.
    Ich habe mein dreiundvierzigstes Lebensjahr vollendet . Warum hat man, selbst wenn man schon krank und erschöpft ist, noch das Gefühl, dass es zwischen der Jugend und dem Alter noch ein drittes, noch intensiveres Lebensalter als die Jugend gibt? Und was wird uns das Alter bringen? Wie viele kluge Freuden, wie viel stumme, verborgene Inbrunst? … Das Leben ist in der Tat ganz und vollkommen. Und die Zeit bringt auch den Tod, und wie vertraut, wie wenig beängstigend er ist – mit jedem Jahr vertrauter und vertraulicher!
    Ich lese die Maximen von Laotse. Wie das Brausen des Windes in einem sonnendurchfluteten Wald. Nein, das Tao lässt sich weder erzählen noch erläutern, nur fühlen und begreifen. Diese Weisheit ist so sanft und einfach, fast gar nicht mehr menschlich: kindlich, tierisch. Und dennoch menschlich.
    Dieser Unglückselige, der mich mit seinen Telefonaten und »literarischen Plänen« belästigt: Es ist, als wolle er mich als stillen Teilhaber einer Bahnhofstoilette gewinnen.
    Es ist für den Leser eine Qual, aus den Brüdern Karamasow herauszudestillieren, was Schicksal und Substanz ist, aus dem Geplapper und wahnwitzigen Geschwätz das Gebot des Evangeliums herauszuhören. Denn alles in allem streitet man mit einem Irren – auch wenn die Kraft dieses Irren die Welt erschüttert und in Aufruhr versetzt hat. Und es noch heute tut … Ich bin nach der Lektüre von fünfundzwanzig, dreißig Seiten vollkommen erschöpft, als Leser leidet man noch stundenlang unter der Nervosität, die sein Ton und seine redseligen Einschübe in einem auslösen. Und doch kommt man von ihm nicht los.
    Es kann durchaus sein – und wird eines Tages vielleicht durch eine polizeiliche Ermittlung bewiesen –, dass Dostojewski jemanden ermordet hat.
    Mein erster Gang in die Stadt. Ein Besuch in der Redaktion. Das Gehen ist eine Qual, jeder Schritt ein Willensakt. Die schlechten Verkehrsmöglichkeiten heute, im vierten Kriegsjahr, die überfüllten Straßenbahnen, die zu selten verkehrenden Omnibusse, der Taximangel, das alles verdoppelt meine Qualen. Aber ich ertrage alles fast zufrieden, als Teil der Strafe.
    »Liebe« bedeutet gewöhnlich die Erinnerung an zwei Personen. An die, die uns in der Kindheit als Erste in die Arme nahm, worauf wir eine große Sicherheit empfanden. Und an die, die als Erste unsere Sinneslust entfachte. Der Erinnerung an diese beiden Personen jagen wir ein Leben lang nach. Deshalb laufen Männer aus den Armen makellos schöner Frauen zu dickbeinigen Trampeln, und so weiter.
    Ich komme mir wieder wie ein Chemiker vor, der in einer Parfümerie Gesichtscreme verkauft.
    Zu Hause erwarten mich die ersten Exemplare vom Buch der Kräuter . Ich nehme eines in die Hand und habe das Gefühl, dass dieses Buch der Nachhall von etwas ist – und es an der Zeit
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