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Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Titel: Tagebücher 01 - Literat und Europäer
Autoren: Sándor Márai
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genaue Ordnung in der Zeit hat: Die Krankheit ist genauso ein Teil des Lebens, wie sie eine Bedingung des Todes, eine Form von Veränderung ist – schließlich ist alles Veränderung, das Leben ebenso wie die Krankheit und der Tod. Zapple also nicht, wenn du krank bist. Bleib still liegen. Tut es weh? … Und wenn schon! Natürlich tut es weh. Auch das gehört zur Strafe. Wird es noch lange dauern? … Tja, so viel du bekommen hast, drei oder sechs Monate!
    Ich habe mich nie wirklich für eine Stadt oder eine Landschaft interessiert – in Wahrheit interessierten mich immer nur die Menschen. Florenz bedeutet für mich nicht die Uffizien oder der Boboli-Garten, sondern eine Engländerin oder ein toskanischer Schuster in einer der engen Gassen nahe der Via Tornabuoni. Wenn ich die Augen schließe und an Paris denke, fallen mir nicht die Straßen oder die Seine als Erstes ein, sondern ein menschliches Gesicht, das sich vage aus den Kulissen der Landschaft löst. Vom Sueskanal ist mir nur der Tonfall eines syrischen Auswanderers wirklich lebhaft in Erinnerung geblieben. Es scheint, als sei der Mensch der einzig wahre Sinn von allem, was wir erleben. Alles andere dient nur dazu, ihn zu charakterisieren, zu umgeben, zu erklären. Die eigentliche Bedeutung von Stromboli besteht für mich in R .s Stimme, wie sie sich über die Schiffsreling beugt und gleichgültig fragt: »Warum ist ein Berg so unruhig?« Den Stromboli habe ich vergessen, ich könnte ihn nicht zeichnen. R .s Stimme habe ich nicht vergessen. Ein Vulkan bedeutet mir nichts. Ein Mensch alles.
    Nicht nur die Krankheit stellt sich überfallartig ein, auch die Genesung. Du erwachst eines Morgens, deine Temperatur ist unverändert, deine Glieder pochen genauso wie am Tag zuvor. Und doch weißt du: Es ist etwas passiert. Das geschieht plötzlich. Gestern vor dem Einschlafen setztest du dich noch mit dem Problem von Tod und Unsterblichkeit auseinander. Am Morgen danach, mit dem Thermometer im Mund, denkst du dir schon, zwanzig Pengő müssten für den Portier zum Abschied eigentlich genügen.
    Momente, in denen dir – immer wieder von Neuem – klar wird, dass du dem Gebot deiner Seele nicht entrinnen kannst: dem zwingenden Gebot, die Antwort nicht in der Welt, sondern in dir selbst zu suchen. Und diese Antwort kann nicht anders lauten als Pflichterfüllung, bis zum letzten Augenblick.
    Drei Monate im Bett, fast regungslos. Die Nervenstränge, die im Verlauf der Entzündung beschädigt oder zerstört wurden, bilden sich allmählich wieder. In den Gliedmaßen wachsen fast ein Meter lange Nervenfasern nach: Das muss abgewartet werden. Ich kann schon wieder gehen, allerdings sehr mühsam. Die starken Schmerzanfälle, das Ausstrahlen der entzündeten Wurzeln in den lebenden Nerven, sind vorerst vorbei. Ich schlafe, brauche kaum noch Schlafmittel.
    Die Skala der Schmerzen kennt kein Ende, aber das ist nicht das Schlimmste. Der Körper vergisst den Schmerz. Ich betrachtete alles, was geschehen ist, als eine Revolte des Körpers, eine Art Matrosenmeuterei. Schlimmer war, als mir eines Tages bewusst wurde, dass mir mein Schicksal allmählich aus den Händen glitt. Meine Seele hatte aufgehört, über mich zu verfügen … es geschah etwas mit mir, große Mächte begannen mit meinem Körper und meiner Seele zu spielen, ohne böse Absicht, einfach so, gleichgültig. Das war das Schlimmste, vielleicht schlimmer als der Tod.
    Rilke sagt : »Man stirbt, wie es gerade kommt; man stirbt den Tod.« Das ist wahr. Wir akzeptieren unseren Tod, und wenn er kommt, um uns zu holen, wird er uns – so oder so – vertraut sein. Doch jetzt zu allem Überfluss diese neue nächtliche, statistische Todeswahrscheinlichkeit. Dieser willkürlich aus der Luft gestreute Tod. Das ist nicht mein Tod; er wird mir nur auferlegt wie eine Steuer. Damit kann man sich nicht abfinden.
    Die Krankheit wird auch von einer Liturgie begleitet: Priester mit Weihrauchfässern und Devotionalien, Gläubige mit andächtigem Gemurmel … Das Leben als horizontale Zeremonie.
    Goethe hat einmal bemerkt, die Deutschen würden angesichts eines Meisterwerks erschrecken und in höflichem Ernst verharren. Südländer lächeln, wenn sie einem Meisterwerk begegnen, lächeln dankbar.
    Wege, tiefe Gewässer und Strömungen in der Literatur:
    Franz Kafka trägt den Ton eines Schriftstellers namens Walser weiter. Kafkas Ton wird von Julien Green weitergemurmelt. An Greens Welt, dieser seltsam bemessenen Welt, baut Charles Morgan
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