Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Titel: Tagebücher 01 - Literat und Europäer
Autoren: Sándor Márai
Vom Netzwerk:
das Abzeichen eines Sportvereins, die schaukelnden Schiffe im warmen, flockigen Nebel, die schimmernde Festung von Montechristo in der Ferne wie auf einem Öldruck, die Wellenlinie der Grande Corniche, überall der sommerliche Duft der Mimosen, der Singsang der flinken Zungen, diese süße, an ihrem eigenen Elan sich berauschende Geschwätzigkeit, die kindische, zufriedene Selbstdarstellung dieser Plebejer auf den Caféterrassen, das überall blubbernde Gelächter und hinter alledem das Schweigen des Meeres, das mit seiner Ebbe und Flut die Reservoire dieser engen Gassen Tag und Nacht mit Waren und Menschen, Gewürzen und Goldstaub, Opium, Aluminium, Kork, Heringen und Heroin, Mauren und Levantinern, Chinesen und Sarazenen, weißen Amerikanerinnen und französischen Stabsfeldwebeln füllt. R. schlendert stolz inmitten dieser heißen, schmuddeligen, selbstvergessenen und klebrigen Menge, wie eine Königin, die endlich zu ihrem Volk heimgekehrt ist.
    Zwei Monate später ist sie tot.
    Und wieder ein Tag in Marseille, acht Jahre später. Das Hôtel de Noailles steht noch, das Feuer hat die edlen alten Möbel nicht versengt. Dieses Hotel wirkt so, als habe Paris einen Generalkonsul an die Grenze geschickt, die Europa von Afrika, den Westen vom Süden trennt. Ein strenger und seriöser Luxus, mit dem die Europäer inmitten der südländischen Umgebung die disziplinierte Überlegenheit der Kultur demonstrieren wollen. Alle, selbst der Groom, sind eine Nuance zu festlich und zu formell. Und unter den fein geschwungenen Fenstern wogt mit schmierigem Geplätscher die Marseiller Nacht.
    Morgens serviert man die Schokolade in altem Sèvresporzellan. Ich liege bis Mittag auf dem Damastbett, lese die Gedichte Rimbauds. Er starb in einem Krankenhaus unweit von hier. Man hatte ihm ein Bein abgenommen, er fluchte und röchelte. Verlaine und der Negus hatten ihn längst vergessen.
    Zu Mittag betrete ich Pascals Restaurant, befangen wie jemand, der gleich einer Zeremonie beiwohnen wird. Natürlich bestelle ich bei dem Kellner, der genauso alt und festlich wie die hundertjährige Örtlichkeit wirkt, eine Bouillabaisse. »Altes Personal«, verkündet am Eingang eine gläserne schwarze Tafel mit goldenen Buchstaben. Er bedient mich streng. »Sie trinken heimischen Wein zur Suppe«, sagt er, als belehrte er einen Neger, wie man isst und die Gabel hält.
    Er serviert einen Rotwein, der genauso heimtückisch schäumt wie der Mousseux, wie der weiße Vouvray. Der Wein ist süß und herb, er benebelt mich, macht mich aber auch überaus lebhaft. Die Fischsuppe ist dickflüssig und stark gepfeffert. Als hätte man das weiße Fleisch der Fische und die mit dickflüssigem Saft übergossenen Brotstücke im fast schon unmoralischen und unanständigen Duft des tiefsten Meeres gedünstet. Danach serviert er gepfeffertes blutiges Fleisch mit Bratkartoffeln und einem Salat, an dem das Öl so stark duftet, als sei es nicht aus Oliven, sondern aus Blumen gepresst worden. Er bedient mich stumm und feierlich, jeder seiner Ratschläge, jede seiner Bewegungen birgt die tiefen Geheimnisse einer gediegenen Bildung in sich.
    Nach dem Mittagessen ein heißer Sturm mit heftigen Regenschauern, gelb-blauen Blitzen und einem warmen Wind, der die Jalousien des Hotels aufreißt und die gelben Seidenvorhänge bläht. Das alles ist Überfluss, Überreife, der Süden. Am Abend begebe ich mich zum Bahnhof, betäubt wie nach einem karthagischen Gelage.
    Wir beerdigen J . in Kiskőrös . Sterbend kroch er aus dem Bett, kramte aus einer Schublade seine Pistole hervor und schoss sich in die Schläfe. Aber er blieb noch stundenlang am Leben: Die Kugel war einmal innen um die Schädelwand gesaust und dann irgendwo im Gehirn stecken geblieben. Er starb im Morgengrauen, blieb bis zum Schluss bei Bewusstsein.
    Die Frau, die er tötete und für die er starb, weiß nichts vom Tod ihres Mannes; sie liegt in der Stunde der Beerdigung in Budapest im Sterben. Der Mann wird im Hinterzimmer der Apotheke aufgebahrt: Man hat ihm die Schläfe mit rosarotem Leukoplast verklebt, einem münzgroßen Heftpflaster, als habe die pflegende Hand nur einen eröffneten Furunkel abgedeckt. Das Gesicht ist schon gelb, larvenhaft.
    Um den Sarg Blumen aus dem Dorf. Dieses Zimmer sollte das wonnig-warme Nest einer großen Liebe werden. Hierher hatte er die junge Frau, seine Geliebte, geschleppt, in diese staubige Kleinstadt, wo sich die Tuberkulosebazillen wie Flöhe fast sichtbar im Staub vergnügen. Hier
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher