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Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Titel: Tagebücher 01 - Literat und Europäer
Autoren: Sándor Márai
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Bäumen. Ich sehe ihn zum zweiten Mal in meinem Leben. Ein junger Mann mit gerötetem Gesicht. Er blickt mich einen Moment verwirrt an, nimmt meinen Gruß mit hilfloser Freundlichkeit entgegen.
    In der Stadt kreischt schon die Revolution . Ich bin achtzehn Jahre alt in diesem Moment und weiß, dass dieser junge König nicht mehr lange regieren wird. Ihm bleiben vielleicht noch ein paar Wochen, vielleicht ein paar Tage.
    Ich empfinde tiefes Mitleid für den einsamen König, wie er im Regen unter den Bäumen umherirrt. Er ist unbehaust, wie es nur Könige sein können, im letzten Augenblick vor ihrem Sturz.
    Das Bad, in Tripolis, nachmittags um vier. Ich komme aus Leptis Magna , mit dem Wagen, bei vierzig Grad Hitze. Die Luft ist wie geschmolzenes Metall, wenn es aus dem Schmelzofen gehoben und in den Tiegel gegossen wird. Der gelbe Sand der Wüste, sonst nichts. Jenseits des gelben Sandes die dunkelblaue Chimäre des Meeres. Zwei Stunden Fahrt auf der Betonpiste nach Bengasi. Nirgends eine Oase. Die Gewissheit, dass die Elemente stärker als die Maschine sind und dass wir, müssten wir nachmittags um drei hier in der Wüste, ohne Kopfbedeckung halten, rettungslos verloren wären. Und diese Gleichgültigkeit, dieses Wohlbefinden unmittelbar vor dem Sonnenstich, wie immer, wenn der Mensch den Elementen, dem Ursprünglichen ausgesetzt ist: Dann sind wir eben verloren! Als sei diese Möglichkeit, die Möglichkeit, verloren zu sein, etwas Gutes und Verheißungsvolles angesichts der Elemente; als sagte man: Wir kehren heim.
    Und dann das Meer. In den Zementkabinen Skorpione, blutverschmierte Watte, Spinnweben. Das Meer, das hier weder kühl noch lauwarm ist, nur anders. Das ist die Urheimat, die Urheimat jedes Europäers, die mediterrane Vertrautheit, das Urwasser, dem wir alle entsprungen sind. Es nimmt dich in die Arme, wiegt dich sacht. Dieses Wasser, das Wasser des Mittelmeers, hat etwas: Es ist anders lauwarm, hat einen anderen Wellengang, eine andere Farbe, einen anderen Duft als der Ozean. Eine Stunde vollkommene körperliche und seelische Glückseligkeit. Das Wasser und mein Körper sind eins. Wie die Leibesfrucht im Fruchtwasser verbringe ich eine ganze Stunde in vollkommener Sicherheit und Geborgenheit.
    Abends um sieben in London, an einer Straßenecke redet jemand zu der Menge. Es regnet. London bei Regen ist weich und glitschig wie ein Seeungeheuer, das infolge seiner Größe auch ein wenig rührend und hilflos ist. Im grünen Licht der Gaslaternen nehmen die Gesichter der Menschen gespenstische Züge an. Als lauschten dem Redner Tote am Meeresgrund.
    Es ist der Augenblick, in dem bekannt wird, dass zwischen Italien und Abessinien der Krieg ausgebrochen ist . Die Leute starren mit gläsernen Blicken vor sich hin. Der Redner gestikuliert mit seinem Regenschirm. Ich komme aus der Bibliothek, habe den ganzen Nachmittag die Bildnisse assyrischer Prinzessinnen bewundert. Der Kopf tut mir weh. Die verregnete Abenddämmerung Londons mit ihren perlfarbenen Lichtern deckt mich zu, als wollte sie mir einen riesigen Umschlag machen.
    Regungslos umstehen die Menschen den Redner. Diese Wortlosigkeit und Regungslosigkeit ist angsteinflößender und beunruhigender als jeder Lärm, jedes Geschrei, jede Parole. Engländer. Ihr Schweigen ist beängstigend. Zum ersten Mal begreife ich etwas, was für mich bis dahin nur Literatur, Information aus zweiter Hand gewesen ist: Diese Menschen sind anders zornig als wir auf dem Kontinent. Sie verstehen es, in der Zeit zornig zu sein, ihre Nervenreflexe zeitlich auszudehnen. Heute, am Donnerstag, beginnen sie zornig zu sein, verraten womöglich aber erst in zehn Jahren, warum sie böse waren. Stumm stehe ich unter ihnen. Noch nie habe ich mich unter Menschen so hoffnungslos einsam und fremd gefühlt.
    R ., im Foyer des Hotels in Marseille, im Pelz, wie eine Königin. Ohne Hut, im Abendkleid, um ihre Schultern ein teurer Pelzumhang; sie erwartet mich, und wir schlendern zu Fuß die Cannebière entlang.
    Ein närrischer Karneval, dieser Abend. Marseille schießt Raketen in den Himmel und schlägt Purzelbäume vor Freude. Die Seeleute, die Schmuggler, die ernsten und bärtigen Einheimischen in dunkler Kleidung und steifem Hut, die Frauen in ihren farbenfrohen und weichen Fetzen, der Geruch gebratenen Fisches im alten Hafen, die Prostituierten und die korrekt gekleideten, festlich umherschlendernden Lustmörder und Lustknaben, die Soldaten, die Fremden, die ihr Fremdsein zur Schau tragen wie
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