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Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Titel: Tagebücher 01 - Literat und Europäer
Autoren: Sándor Márai
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fort.
    Das alles ist kein Plagiat. In der Literatur existieren Strömungen von unterschiedlicher Wellenlänge, die sich auf den entsprechenden Empfangs- und Sendestationen äußern.
    Der Amoklauf durch die Arbeit, dem die meisten schöpferischen Menschen bis zu ihrem fünfzigsten Lebensjahr zum Opfer fallen: Lässt er sich willentlich, künstlich verlangsamen? Aufhalten? Lässt sich diese Flamme regulieren und dosieren? Durch eine bestimmte Methode, Lebensweise, Erfahrung drosseln? Ich glaube kaum. (Das vermochte nur Goethe.) Bis zu seinem fünfzigsten Lebensjahr ist man entweder mit seinem Werk fertig oder mit seinem Leben.
    Das Leben des Menschen verliert allmählich seine menschliche Dimension. Alles wird übermenschlich, kolossal, gigantisch. Nur die Literatur bewahrt noch das menschliche Maß, nur ein paar Seelen tragen noch das Greenwich-Maß in sich. Dieses Ungeheuer auf tönernen Füßen, der zur Masse aufgedunsene Mensch, wird eines Tages zusammenbrechen und in seiner Verzweiflung vom Kolossalen wieder zum menschlichen Maß zurückkehren. Dann werden erneut die Schriftsteller gefragt sein, diese treuen Bewahrer des Maßes.
    Am Morgen erwachen alle im Haus mit Kopfschmerzen. Es geht etwas vor sich, in der Luft, in der Welt … keiner kann sich dem entziehen. Woher die fixe Idee, dass alles, was mit uns geschieht, so auch unsere Kopfschmerzen, eine persönliche Bedeutung hätte? Aber ebendiese fixe Idee ist der Mensch.
    Seit Tagen leichte Kopfschmerzen morgens bei der Arbeit. Ich kann wieder gehen, aber meine Glieder sind noch völlig gefühllos: Ich gehe nicht, ich hebe gelegentlich ein Bein und setze es dann vorsichtig auf den Boden. Das alles – das Gehen, die Arbeit, das Leben, eine Beobachtung auf der Straße – verlangt einen ungeheuren Kraftakt von mir; ich bin nach dem Mittagessen zuweilen so müde, als hätte ich einen Berg bestiegen.
    Am Abend Gäste, unter ihnen Professor Z ., der Nervenarzt. Er erzählt vom Selbstmord der Frau und der Tochter von X .: Das Mädchen hatte ihre Mutter und anschließend sich selbst mit Blausäure umgebracht. X . wollte vom Tod seiner Frau und seiner Tochter nichts wissen, er verdrängte die Tragödie und flüchtete sich in seine Krankheit. In seinen letzten Wochen, siebzigjährig, berichtete er seinem Arzt prahlend, dass er onaniere, und beteuerte, dass in diesem Alter auch Goethe onaniert habe. Auch Széchenyi führte er an.
    Ich lese Charles Morgans Voyage , eher aus Pflichtbewusstsein und Ordnungssinn, da ich nun einmal damit begonnen habe, denn aus Vergnügen. Das Buch geht organisch aus Kafka und Green hervor, so wie eine Chemikalie aus dem Benzolbereich hervorgeht, wenn einige Moleküle verschoben werden. Der Verfasser lässt sich verdammt viel Zeit. Doch vergeblich – die Gattung Roman hat nicht so bequem viel Zeit wie der Verfasser. Die Gattung hat eine bestimmte Dauer, ein bestimmtes Zeitmaß, und sei es ein noch so langsames; es ist spezifisch festgelegt. Ein Schriftsteller, der gegen das gültige Zeitmaß der Gattung verstößt – ihm hinterherhinkt oder ihm vorauseilt –, verpasst letztlich sein Werk.
    Mit einundsechzig und ein paar Jahren notiert Gide in seinem Tagebuch, dass er seit geraumer Zeit nur noch posthume Bücher schreiben will; also gar nicht mehr schreiben möchte.
    Ebendort, Ingres zitierend: »Ein Mensch mit Begabung macht, was er will; ein Mensch mit Genie macht, was er kann.«
    Man schickt mir ein Exemplar der tschechischen Ausgabe von Ein Hund mit Charakter . Ich kann die Übersetzung leider weder verstehen noch überprüfen, aber auf dem Titelblatt erblicke ich ein Ungeheuer, das meinen Hund Csutora in der Phantasie des tschechischen Zeichners zeigt, wie es ihm vom Roman suggeriert wurde – eine Art Mischling aus bastardiertem Drahthaarfox und Klosettbürste. Csutora hingegen war ein Puli, und ich habe mich bemüht, ein äußerlich wie innerlich getreues Bild von ihm zu geben.
    Was wird aus alledem, was wir schreiben und denken, in den Händen von Übersetzern, in der Phantasie von anderen? Was für ein furchtbares Missverständnis ist doch jedes Wort, das ein Mensch an den anderen richtet.
    Ohne Eros gibt es keine Schöpfung. Eros ist natürlich nicht nur der Moment der Verliebtheit, sondern auch die Besessenheit, ohne deren Strom wir keinen Bezug zu unserer Arbeit haben. Was leitet diesen Strom, was ruft diese Besessenheit hervor? Gnadenreiche kleine Wunder des Alltags: der Blick einer Frau, die Lichtbrechung in einer Landschaft,
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