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Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Titel: Tagebücher 01 - Literat und Europäer
Autoren: Sándor Márai
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von Hamlet bis Timon von Athen ). Diese Phase, die Zeit der Sonette, war in Shakespeares Leben Höhepunkt und Krise zugleich. Lauter Beweise für das, was schon manche vermutet und angedeutet haben: dass der Höhepunkt im Leben des Genies mit der Befreiung oder einfach Bewusstwerdung latent bisexueller Neigungen zusammenfällt.
    Aus Genf kommend besucht mich Sz . und fragt mich, ob es Ungarn zum Vorteil gereichen könnte, wenn wie geplant Illyés’ Selbstbekenntnisse , Die Puszta , auf Französisch erschienen? Die offiziellen Bedenken und Gegenargumente sind altbekannt: Unsere Feinde würden alles, was der Autor über das Schicksal der ungarischen Leibeigenen schreibt, ausschlachten, und so weiter, und so fort.
    Ich glaube, auch ohne Illyés’ Buch wissen und sagen unsere Feinde alles, was man über den Feudalismus und die ungarischen Leibeigenen wissen und sagen kann. So formuliert bleibt die Frage mechanisch und zwecklos. Für den Schriftsteller gibt es nur ein Gebot: die Wahrheit auszusprechen, die er erkannt hat, die in seinem Herzen brennt, die er aussprechen muss, wenn nicht jedes seiner Worte, selbst die gleichgültigsten, zur Lüge verkommen sollen. Was die Welt mit dieser Wahrheit anfängt, ist Sache der Welt. Ich glaube nicht, dass es je einer Nation geschadet hat, was die Besten ihrer Söhne an Einsichten und Wahrheiten in die Welt hinausschrien. Ich glaube nicht, dass Széchenyis Bekenntnisse über seine Heimat Ungarn »geschadet« haben. Ohne Diagnose kann es keine Heilung geben.
    Eric Knights Kriegsroman This above all etwa »schadet« dem kriegführenden England in den Augen seiner Feinde sicher auch nicht; obwohl oder vielleicht gerade weil er mit unerbittlicher Offenheit den Widerwillen der englischen Arbeiter und Soldaten gegen diesen Krieg darlegt, bis man ihnen versprochen hat, dieses England der rotbefrackten Bierfabrikanten nach dem Krieg in ein würdiges Zuhause für die arbeitenden Massen zu verwandeln. Eric Knights Roman erschien während des Krieges, in England, und es erschien auch der Beveridge-Plan , und trotzdem schlugen sich Montgomerys Truppen in Tunis prächtig … Das Bekenntnis zur Wahrheit hat das Potenzial einer Nation noch nie geschmälert. Verhüllung und Lüge hingegen führen immer in die Tragödie.
    Das Gastmahl des Trimalchio in einer neuen Übersetzung. Ich lese diesen herrlichen zweitausendjährigen Schmöker, den damaligen Schlüsselroman des grausamen und ohrenbetäubend kreischenden Nero, in einem Zug durch. (Vor zwanzig Jahren, in einer schlechten deutschen Übersetzung, erschien es mir noch saft- und kraftlos.) Dieses zweitausendjährige Abendmahl aus der Leopoldstadt , dieser fette römische Schieber Trimalchio und seine Gäste, diese heitere Grausamkeit und Freimütigkeit, die Art und Weise, wie Petronius diese verkommene Gesellschaft, die zu jener Zeit noch über die ganze Welt herrschte, der Ewigkeit vor Augen führt, diese buhlenden, rülpsenden, sich übergebenden, bei Flötenspiel und griechischen Versen dahinsiechenden Emporkömmlinge, dieses auf ein paar Seiten komprimierte umfassende Bild einer ganzen Epoche ist in der Tat ein Meisterwerk. Der Schlüsselroman sagt mehr über das antike Rom aus als Mommsen und noch viel mehr über den ewig hoffnungslosen Menschen. Überlasst die Geschichte nur den Schriftstellern! Sie werden davon ein umfassendes Panoramabild zeichnen, und das nebenher und meisterhaft.
    Mein Herz, meine Seele, meine Nerven, was wollt ihr? Was erhofft ihr euch? … Wie ist es möglich, dass ich fast wehmütig an die entsetzliche Krankheit zurückdenke? Wie jemand, der endlich in den Besitz einer Freifahrkarte gekommen ist, um diese Welt zu verlassen, und diese Freifahrkarte vorschnell und unbedacht weggeworfen hat … Will ich wirklich weiterleben, mit meinem ganzen Glauben, mit all meiner Kraft? Eine schwierige Frage. Ich wage nicht, darauf zu antworten.
    Nicht überrascht sein und nicht gekränkt sein. Mit aller verbleibenden Kraft darauf achten, dass ich jede bösartige und gierige Manifestation menschlicher Selbstsucht, Frechheit und Eifersucht ruhig und mit jener Gleichgültigkeit über mich ergehen lasse, die wohl weiß, dass es gar nicht anders sein kann, dass die Menschen nun einmal so sind, oder nur selten einmal, zufällig, in irgendeiner pathetischen oder gleichgültigen Situation nicht so sind. Nicht gekränkt sein, nicht streiten, ruhig bleiben und sachlich handeln, im Sinne deiner höheren Interessen und Pflicht. Und nicht
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