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Tagebuch aus der Hölle (German Edition)

Tagebuch aus der Hölle (German Edition)

Titel: Tagebuch aus der Hölle (German Edition)
Autoren: Jeffrey Thomas
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beschreiben, was dann geschehen war.
    »Er ist der Vater. Der Schöpfer«, klärte mich jemand auf.
    »Das weiß ich.« Ich verlor allmählich die Geduld und wollte weg. »Ich hab es nur für eine Minute vergessen.« Das war eine unserer ersten Lektionen gewesen: Seinen Namen nicht zu missbrauchen.
    Ich wandelte wieder über den Hof und schaute erneut auf die dornigen Pflanzen, die in seiner Mitte wuchsen, und auf die efeuartigen Weinranken mit den eigenartig violetten Blättern, die eine der Metallmauern erwürgten, die uns umschlossen. War irgendeine von ihnen essbar? Ich hatte seit fünf Tagen nichts gegessen. Mein geklonter Körper, diese Illusion, litt verzweifelten Hunger, obwohl ich mir sicher war, dass ich eigentlich keinerlei Nahrung oder Energiezufuhr benötigte. Mein Körper war noch immer mit denselben Bedürfnissen und Trieben ausgestattet, nur, damit ich Hunger und Schmerzen erleiden konnte … genau wie zu meinen Lebzeiten.
    Fünf lange Tage. Ich muss an dieser Stelle gestehen, dass ich nicht mit Sicherheit sagen kann, ob es wirklich fünf Tage waren, da es hier natürlich keinen Sonnenuntergang gibt – sofern wir annehmen, dass dieser Ort sich tatsächlich »unten« befindet, auch wenn ich mir sicher bin, dass er nicht einfach nur direkt unter der Erdoberfläche liegt. Er befindet sich gewiss in einer anderen Dimension, auf einer anderen Ebene, in einem Anderswo, das mein Verständnis von Raum und Zeit übersteigt. Ich versuche jedoch, ihn mit meinem begrenzten Verständnis der Zeit zu erfassen und verlasse mich dabei auf die innere Uhr meines gefälschten Körpers, die mir mitzuteilen scheint, dass inzwischen fünf Tage vergangen sind. Außerdem umfasst hier jeder »Tag« eine überlange Pause zwischen zwei Unterrichtseinheiten, die ich als Nacht ansehe. Vielleicht ist das ja auch der Zeitpunkt, an dem die Dämonen selbst ausruhen. Wie bereits gesagt, können diese Unterrichtspausen für uns andere jedoch nicht als Erholung betrachtet werden, da es ein Akt der Sorge und der Gnade wäre, uns eine Erholungspause zu gönnen.
    Ich stellte mich ganz dicht neben die mit violetten Ranken bedeckte Mauer und rieb eines der wachsartigen Blätter zwischen meinen Fingern. Kurz sah ich noch mal über die Schulter, riss eines von ihnen ab und knabberte daran. Es schmeckte faulig. Ich spuckte es wieder aus. Selbst der abgebrochene Stängel stank einfach widerlich, eher wie ein platt gefahrenes Tier als nach verrottenden Pflanzenresten. Aus dem abgebrochenen Zweig quoll ein einzelner Tropfen Blut. Ich wollte nicht wissen, was diese Pflanzen in Wirklichkeit waren – oder einst gewesen waren.
    Das war der Augenblick, in dem ich die Gottesanbeterin sah. Sie bahnte sich vorsichtig einen Weg durch die glänzenden Blätter. Ich hätte sie wohl nicht bemerkt, wenn sie sich nicht bewegt hätte, da ihre Tarnung im selben dunkelvioletten Farbton absolut perfekt war. Zusätzlich hatte sie ungewöhnliche Auswüchse an den Beinen, die aussahen wie Blattlaub.
    Obwohl meine Stirn gebrandmarkt und ich in den vergangenen fünf Pseudotagen übel verprügelt worden war, ich also viel Schmerz erduldet hatte, verspürte ich doch Angst davor, das Tier zu berühren, weil ich fürchtete, es könnte mich beißen. Ich zwang mich jedoch, meine Furchtsamkeit zu überwinden, und streckte meine Hand nach dem großen Insekt aus. Zunächst versuchte es, die Handfläche zu umgehen, aber schließlich gelang es mir, es dazu zu bringen, über meine Hand und auf meinen Ärmel zu krabbeln, wo es – desorientiert, aber wachsam – ganz still stehen blieb. Ich führte es näher an mein Gesicht heran, um es zu begutachten.
    Gibt es in der Hölle wohl ganz eigene eingeborene Spezies?, fragte ich mich. Gewiss endeten Tiere nicht in der Hölle, nur, weil sie intellektuell nicht dazu in der Lage waren, ihren Schöpfer anzuerkennen. Existierte hier unten ein separates, aber dennoch ganz ähnliches Ökosystem? Hatte sich diese Gottesanbeterin demnach bis zu ihrer momentanen Form fortentwickelt? Ihre Tarnfarbe und -form erst allmählich angenommen? Widersprach eine solche Evolution aber nicht eigentlich der schieren Existenz der Hölle?
    Diese schlichte, irdisch anmutende Kreatur verwirrte mich mit einem Mal mehr als die eisernen Mauern, die um mich herum in die Höhe wuchsen, mehr als die flammende Dämonenstatue in der Mitte des Hofes oder der verrauchte Himmel, den ich bislang noch nie klar gesehen hatte. Es war mir ein Rätsel. War dieses Insekt ein
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