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Tagebuch aus der Hölle (German Edition)

Tagebuch aus der Hölle (German Edition)

Titel: Tagebuch aus der Hölle (German Edition)
Autoren: Jeffrey Thomas
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dass die Dinge nicht so gelaufen waren, wie ich es mir erhofft hatte, als ich meine tränenreiche, selbstmitleidige Entscheidung getroffen hatte. Ich hatte geglaubt, es wäre der letzte Schmerz, den ich je würde ertragen müssen – eine infernalische Mikrosekunde in meinem Schädel, gefolgt von süßem Vergessen. Es war schon hart genug gewesen, sich nur dieser Mikrosekunde zu stellen und meinen ganzen Mut dafür zusammenzunehmen. Aber das … das … wie sollte ich das nur aushalten? Vor allem, da mir ein Großteil meines Gesichts fehlte?
    Ein zweiter Dämon trat ein. Ich konnte noch nicht einmal schreien, als die beiden mich packten. Sie zerrten mich aus dem Raum, der, wie ich annahm, nur einer von vielen, vielen anderen war, in denen die Seelen nach dem Übertritt abgeladen wurden. Wir alle kommen in einem dieser sargartigen weißen Räume hier an, allein, bevor wir in den Rest der Bevölkerung eingegliedert werden. Der Schmetterling schlüpft aus seiner Puppe, »neugeboren«, sein neuer Körper aus seinem Geiste neu gestrickt. Aber warum trug ich dann noch immer die realen Wunden meines Selbstmordes?
    »Selbstmord ist eine Sünde«, grummelte eines der Ungeheuer, die mich fortzerrten. Sein Brummen hörte sich beinahe wie das Knurren eines Hundes an. Diese Kreaturen gehörten nicht zur Gruppe der wandelnden Kadaver der angeseheneren Klasse, sondern erinnerten mit ihrer grauen Haut, in die Spiralen gebrannt waren, die an Maori-Tattoos erinnerten, und ihren derben, knochigen Gesichtern – lang und hündisch, mit den Stoßzähnen von Warzenschweinen – eher an haarlose Paviane. Sie waren muskulös, nackt und kurze, dicke Schwänze wuchsen ihnen am Ende des Rückens aus dem Fleisch. Da sie stark gebeugt gingen, reichten sie mir jedoch nur bis zur Schulter. Dämonen von niedrigem Rang, die nur einfache Dienste leisteten … affenartig, primitiv, auf der unteren Stufe der höllischen Evolutionsleiter stehend. Selbst ihre fledermausartigen Flügel, von denen man hätte annehmen können, sie würden ihnen ein königliches Aussehen verleihen, waren zerlumpt und vernarbt, und abgesehen von denselben eingebrannten Spiralen auch mit zahlreichen Löchern übersät. Die Spirale ist ein Symbol für die Unendlichkeit.
    Sie erinnerten mich an die fliegenden Affen im Film Der Zauberer von Oz, aber das behielt ich besser für mich. Sie prügelten so schon genug auf mich ein. Ich wehrte mich nur schwach gegen sie, während sie mich dunkle, gewundene Korridore aus schwarzem Metall entlangzerrten, die nur durch herunterhängende nackte Glühbirnen beleuchtet wurden. Einmal versetzte man mir einen Tritt, der mir hörbar eine Rippe brach. Wenigstens konnte ich endlich weinen. Ich stieß jämmerliche Bitten und Flüche aus, was mir, wie ich bald feststellte, inzwischen möglich war, weil mein Unterkiefer allmählich nachwuchs.
    Ich würde, wenn ich die Leitung der Hölle innehätte, ernsthaft darüber nachdenken, einfach alle in dem Zustand zu belassen, in dem sie hier ankommen. Jemand, der an Krebs oder AIDS gestorben ist, wäre dann noch immer ein Skelett, für alle Zeit schwach und dahinschwindend. Ein Selbstmörder wie ich wäre gezwungen, bis in alle Ewigkeit mit einem zerfetzten Schädel herumzulaufen – ein grauenhafter Anblick, gemieden vom Rest der Verdammten und stets von entsetzlichen Schmerzen geplagt. Doch durch Gegensätze gedeiht Sadismus noch besser. Die Erfüllung am Weihnachtsmorgen ist schließlich nichts ohne die aufgeregte Erwartung am Abend zuvor. Darauf zu warten, wieder verletzt zu werden … zu wissen, dass es unvermeidlich ist, dass dein verheiltes Fleisch wieder zerstört werden wird … all das erdrückt den Geist nur noch mehr, finde ich. Die Zeit zwischen dem letzten und dem nächsten Leiden, die einem nur wie eine kleine Pause erscheint, macht die Zeiten des Leidens im Vergleich nur umso schrecklicher. Das Yin nährt das Yang. Hitze ist umso heißer, wenn wir die Kälte kennen. Wenn die Wunden meines Selbstmordes niemals verheilt wären, hätte ich mich womöglich für immer im Wahnsinn des blinden Schmerzes verlieren können. Aber dass ich immer wieder vollständig wiederhergestellt, wieder ich selbst werden kann, macht die Angst, mich selbst erneut völlig zu verlieren, nur umso größer.
    Sie brachten mich in einen sehr großen Raum – und ich meine wirklich sehr groß –, der ungefähr die Größe der Penn Station in New York hatte. Er verfügte sogar über ein riesiges Fenster, das als Dach
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