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Tagebuch aus der Hölle (German Edition)

Tagebuch aus der Hölle (German Edition)

Titel: Tagebuch aus der Hölle (German Edition)
Autoren: Jeffrey Thomas
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an Bord gezwungen. Er war überfüllt und es gab keine Sitzplätze, aber trotzdem schafften es einige von uns, darunter auch ich, auf der Fahrt in unsere neuen Kleider zu schlüpfen. Die anderen zogen sich um, als wir unser Ziel erreicht hatten – die Avernus-Universität.
    In der Universität führten sie meine Gruppe zu ihrem zukünftigen Quartier: ein Raum mit immens hoher Decke, der fast genauso groß war wie die Einwanderungsstation, in der wir für den Transport gebrandmarkt und aufgeteilt worden waren. Im ganzen Raum standen Bänke verteilt, aber die meisten Bewohner lagen zusammengekrümmt auf dem Boden, kauerten an den eisernen Wänden oder liefen in kleinen Gruppen umher. Von der höhlenartigen Decke hallten Schluchzer wider, fast so, als habe sich dort eine flüssige Klangschicht gebildet.
    Ich ließ mich gegen eine Wand fallen, glitt zu Boden, schlang meine Arme um meine Knie und schaukelte vor und zurück, vor und zurück, vor und zurück. Mein Kopf war wieder völlig heil, der Schmerz vollkommen verflogen – abgesehen vom Brennen des Brandmals, das so heiß war, dass ich dachte, die Tränen auf meinen Wangen müssten eigentlich verdampfen.
    Später kamen einige unserer menschlichen Kameraden zu uns, um den Neuankömmlingen die Köpfe zu scheren. Ich vermute, man konnte den fliegenden Affen diese Aufgabe nicht anvertrauen, ohne befürchten zu müssen, dass sie das eine oder andere Ohr abschnitten. Heute, am sechsten Tag, sprießen schon wieder zarte Härchen nach – schon komisch, dass mein Haar langsamer wieder nachwächst, als mein gesamter Schädel sich selbst heilte.
    Meist rasierten uns Frauen und Kinder die Köpfe. Ja, es waren auch Kinder in diesem riesigen Raum. Ihr schrilleres Heulen war für mich unerträglich. Das Weinen eines Kindes weckt bei Erwachsenen Urinstinkte: Es geht uns unter die Haut, wie eine Alarmsirene, und wir möchten dieses Kind beschützen und wollen, dass es aufhört zu weinen – bei kranken Eltern kann sich dieser Instinkt, dem Weinen ein Ende setzen zu wollen, irgendwann verzerren und in strafende Schläge verwandeln. Wegen der Schreie der Kinder steckte ich mir die Daumen in die Ohren. Auch ich begann, sehr laut zu jammern, und ließ mich von ihrem Leid mitreißen. Mein Vater verfügte scheinbar nicht über diesen Beschützerinstinkt.
    Die Hände der Frau, die meinen Kopf rasierte, beruhigten mich jedoch ein wenig. Sie schenkte mir die erste sanfte Berührung in der Hölle. Geschickt schnitt sie mir mit der Schere die Haare und rasierte den Rest mit einem geraden Rasiermesser und Rasierschaum ab. So hart die ganze Sache jedoch sein mochte, und obwohl sie mir ein Dutzend blutender Schnitte bescherte, vergoss ich allein aus Dankbarkeit für ihre zarten Hände auf meinem Kopf jämmerliche Tränen. Ich stand noch zu sehr unter Schock, um sie zu fragen, was hier vor sich ging und was mit mir geschehen war. Seltsamerweise war alles, was ich tun konnte, ihr zu danken. Sie lächelte mich an, bevor sie sich dem nächsten Neuankömmling zuwandte. Nie zuvor hat ein Lächeln für mich so wunderschön ausgesehen, auch wenn die Frau vollkommen unscheinbar aussah, bereits im mittleren Alter war und ein eingebranntes J auf der Stirn trug.
    Einige Zeit, nachdem meine Ausbildung begonnen hatte, fand ich heraus, dass sie und andere mit diesem Brandzeichen Juden waren. Juden und Muslime sind hier, weil sie den Märtyrertod des Sohnes des Schöpfers nicht als ihre einzige Erlösung anerkannt haben. Da ihr Glaube jedoch grundsätzlich ähnlich ist, erspart man ihnen die vollständige Folter der Unterwelt und macht sie häufig zu Dienern oder Assistenten – so auch diejenigen, die uns die Köpfe rasierten. Allen, die hingegen dem Buddhismus, Shintoismus oder dem Wicca-Kult usw. anhängen, wird diese begrenzte Gnade nicht zuteil. Sie werden nicht besser behandelt als Atheisten.
    Auch die Köpfe dieser menschlichen Arbeiter sind stets rasiert, aber bei uns anderen, die wir nur eine Zeit lang hier sind, stellt es für sie, schätze ich, nur eine weitere Möglichkeit dar, unseren Geist zu brechen, und unseren Sinn für Individualität löschen sie aus, indem sie uns in völlig identische Uniformen stecken. Wie Soldaten. Wie Sträflinge. Irgendwann wird unser Haar zwar nachwachsen – einige der Studenten, die sich am längsten hier befinden, haben bereits wieder einen vollen Haarschopf –, aber die ganze Prozedur dient ohnehin nur dem anfänglichen Schock.
    Später beobachtete ich, wie andere
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