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Tagebuch aus der Hölle (German Edition)

Tagebuch aus der Hölle (German Edition)

Titel: Tagebuch aus der Hölle (German Edition)
Autoren: Jeffrey Thomas
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Fünfter Tag
    An meinem fünften Tag in der Hölle fand ich eine Gottesanbeterin.
    Es war in einer kurzen Pause zwischen zwei Unterrichtsstunden; allerdings diente diese Pause nicht der Entspannung. Wir warteten lediglich auf die Ankunft unseres nächsten Ausbilders, und wie viele meiner Kommilitonen war ich in einen der Innenhöfe der Universität geschlendert. Die gesamte Universität ist aus schwarzem Metall erbaut. Einige Bereiche sind wie die Platten der Außenhaut eines mächtigen Kriegsschiffes miteinander verbunden und von Nieten und überdimensionierten Muttern übersät, die baumdicke Bolzen umschließen, während andere aus einem einzigen gigantischen Stück Eisen geformt zu sein scheinen. Über das komplette Gebäude ziehen sich rote Rostspuren, die aussehen wie getrocknetes Blut. Ein paar davon könnten tatsächlich getrocknetes Blut sein. An meinem dritten Tag hier regnete es Blut. In reißenden Strömen. Als der Regen schließlich aufhörte, dampften auf dem Universitätshof tiefrote Pfützen, und in einigen dieser kleinen Teiche wanden sich zappelnde Aale und Quallen, die, wie ich dann feststellte, in Wahrheit Organe und Eingeweide waren. Einer meiner Kommilitonen vermutete, es handele sich dabei um den Abfall, den der örtliche Folterkomplex ausgestoßen hatte.
    Die Größe der Avernus-Universität übersteigt sämtliche menschlichen Maßstäbe. Ich weiß jetzt schon, dass mir beim Schreiben dieses Berichts, dieses Tagebuchs oder wie immer ich es auch nennen werde, bald die Synonyme ausgehen werden, um das schiere Ausmaß hier zu beschreiben. Das Ausmaß der Größe ebenso wie das Ausmaß des Leidens.
    Ich wünschte, ich hätte mit diesem Bericht am ersten Tag beginnen können, aber ich hatte weder Papier noch einen Stift, bevor der Unterricht am zweiten Tag ernsthaft begann. Um ehrlich zu sein, ist es mir doch ein wenig schwergefallen, mich an meine neue Umgebung zu gewöhnen, sodass es mir bis heute gar nicht in den Sinn kam, persönliche Erlebnisse niederzuschreiben. Außerdem erwarte ich, dass sie mir dieses Buch wegnehmen werden, wenn sie herausfinden, dass ich meine eigenen Gedanken darin festhalte. Ich habe das Buch umgedreht, sodass ich mit meinen Aufzeichnungen hier auf der letzten Seite beginnen kann. Hoffentlich schauen sie sich das Ende des Buches nicht an, falls sie es wirklich untersuchen sollten. Im vorderen Teil des Buches fülle ich die Zeilen, wie es meiner gesamten Klasse aufgetragen wurde, mit selbstverachtenden Erniedrigungen:
    »Ich bin ein Wurm, der seines Schöpfers unwürdig ist. Ich habe die Liebe meines Vaters verraten. Ich habe das Geschenk des Lebens, das mein Vater mir gab, verschwendet.« Jede Zeile muss sich von den anderen unterscheiden und reumütig sein – aber nicht, dass mir je verziehen würde, selbst wenn ich eine Trillion solcher Zeilen schriebe und dabei keine der anderen gliche.
    Ich glaube – ich hoffe –, dass das Schreiben dieses Tagebuchs mir zumindest eine kleine Ablenkung bieten wird. Einen neuen Fokus, der meine intensiven körperlichen Schmerzen zumindest ein wenig in den Hintergrund rückt. Eine Art Mörtel, der die bröckelnden Bausteine meines Verstandes zusammenhält. Aber vielleicht ist das ja auch ein Fehler. Vielleicht wäre ich besser beraten, wenn ich mich einfach dem Wahnsinn hingäbe. Vielleicht könnte ich dann Frieden finden. Nun ja, ich schätze, das kann ich später immer noch tun, falls geistige Gesundheit doch nicht das Richtige für mich sein sollte.
    Ich schätze, der Hauptgrund, weshalb ich dies niederschreibe, ist, dass es eine Form der Rebellion ist, ein Ausdruck von Individualität. Es erinnert mich an meine Zeit in der High School, die ich irgendwann vorzeitig abgebrochen habe … nicht, weil ich nicht intelligent genug gewesen bin oder ein Junkie oder sonst was, sondern weil ich so schüchtern war und mich dort so fremd fühlte – ein Außenseiter eben. Ich wollte einfach nur zu Hause bleiben und lesen. Und ich wollte schreiben, träumte davon, Schriftsteller zu sein – auch ein Grund, weshalb ich stets diesen Zwang verspüre, Papier und Stift zu vereinen, selbst an diesem Ort hier. In der High School bekamen wir einmal die Hausaufgabe, eines von zwei Theaterstücken in einem Buch zu lesen. Ich las jedoch nicht das Stück, das man uns zugeteilt hatte. Nein, ich las eines Tages, als ich die Schule schwänzte, das andere der beiden Theaterstücke – ich wartete hinter der Garage, bis mein Vater zur Arbeit gegangen war,
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