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Kein Engel so rein

Kein Engel so rein

Titel: Kein Engel so rein
Autoren: Michael Connelly
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    Die alte Frau hatte es sich mit dem Sterben noch mal anders überlegt, aber da war es schon zu spät. Sie hatte die Finger in die Farbe und den Putz der Wand gegraben, bis die meisten ihrer Fingernägel abgebrochen waren. Dann hatte sie es am Hals probiert, hatte die blutigen Fingerspitzen von unten unter das Kabel zu schieben versucht. Sie hatte so fest gegen die Wände getreten, dass sie sich vier Zehen brach. Sie hatte sich so angestrengt, einen so wild entschlossenen Über-lebenswillen gezeigt, dass sich Harry Bosch fragte, was zuvor passiert war. Wo waren diese Entschlossenheit und dieser Wille gewesen, und warum hatten sie sie im Stich gelassen, bis sie sich das Verlängerungskabel um den Hals geschlungen und den Stuhl umgestoßen hatte? Warum hatten sie sich vor ihr versteckt?
    Das waren keine offiziellen Fragen, die in seinem Bericht gestellt würden. Aber es waren die Dinge, die Bosch zwangsläufig durch den Kopf gingen, als er vor dem Splendid-Age-Seniorenheim am Sunset Boulevard östlich vom Hollywood Freeway in seinem Auto saß. Es war 16 Uhr 20 am ersten Tag des Jahres. Bosch hatte es mit der Feiertagsbereitschaft erwischt.
    Der Tag mehr als zur Hälfte vorbei, und Bosch war schon zu zwei Selbstmorden gerufen worden – einer mit einer Pistole, der andere mit dem Verlängerungskabel. Beide Opfer waren Frauen. In beiden Fällen gab es Anzeichen von Depressionen und Verzweiflung. Isolation. Am Neujahrstag hatten Selbstmorde immer Hochkonjunktur. Während die meisten Menschen den Tag mit einem Gefühl von Hoffnung und Erneuerung begrüßten, gab es auch jene, die ihn für einen guten Tag zum Sterben hielten, wobei einige – wie die alte Frau – ihren Fehler erst einsahen, wenn es zu spät war.
    Bosch blickte auf und beobachtete durch die Windschutzscheibe, wie das letzte Opfer auf einer fahrbaren Bahre und mit einer grünen Decke zugedeckt in den blauen Lieferwagen des gerichtsmedizinischen Instituts geladen wurde. Er sah, dass in dem Lieferwagen bereits eine weitere belegte Bahre wa r, und er wusste, sie war vom ersten Selbstmord – eine vierunddreißigjährige Schauspielerin, die sich auf einem Hollywood-Aus­sichtspunkt am Mulholland Drive in ihrem Auto erschossen hatte. Bosch und die Leichencrew waren von einem Fall zum nächsten gefahren.
    Boschs Handy begann zu trällern, und er war froh über die Ablenkung von seinen Gedanken über belanglose Tode. Es war Mankiewicz, der diensthabende Sergeant in der Hollywood Division des Los Angeles Police Department.
    »Sind Sie mit dieser letzten Sache schon fertig?«
    »Ja, eben grade.«
    »Irgendwas Besonderes?«
    »Eine Selbstmörderin, die es sich zu spät anders überlegt hat. Haben Sie was Neues?«
    »Ja. Etwas, das ich lieber nicht über Funk durchgeben wollte. Muss ein lascher Tag sein für die Presse – es kommen mehr Anfragen von Journalisten rein als Notrufe von Bürgern. Alle wollen sie was über den ersten machen, die Schauspielerin vom Mulholland. Sie wissen schon, eine dieser Storys im Stil von: Traum von großer Hollywood-Karriere geplatzt. Und auf die letzte Meldung würden sie sich wahrscheinlich auch alle stürzen.«
    »Aha. Was ist es?«
    »Jemand, der oben in Laurel Canyon wohnt. In der Wonderland Avenue. Er hat gerade angerufen und gesagt, sein Hund ist mit einem Knochen im Maul aus dem Wald zurückgekommen. Er meint, er ist von einem Menschen – der Armknochen eines Kindes.«
    Fast hätte Bosch laut aufgestöhnt. Zu solchen Einsätzen kam es zwischen vier- und fünfmal pro Jahr. Hysterie, auf die immer eine einfache Erklärung folgte: Tierknochen. Durch die Windschutzscheibe salutierte er den zwei Männern von der Gerichtsmedizin, die zum Führerhaus des Lieferwagens gingen.
    »Ich weiß, was Sie jetzt denken, Harry. Nicht schon wieder so ein Knocheneinsatz. So was haben Sie schon hundertmal gemacht, und immer die gleiche Geschichte. Ein Kojote, ein Reh, irgendwas. Bloß, dieser Typ mit dem Hund, das ist ein Arzt. Und er sagt, er ist sich absolut sicher. Es ist ein Humerus. Das ist der Oberarmknochen. Er sagt, er ist von einem Kind, Harry. Und, jetzt kommt’s. Er hat gesagt …«
    Es wurde eine Weile still, und Mankiewicz suchte anscheinend nach seinen Notizen. Bosch beobachtete, wie der blaue Lieferwagen losfuhr. Als Mankiewicz an den Apparat zurückkam, las er offensichtlich ab.
    »Der Knochen hat direkt über dem mittleren Epicondylus – was immer das ist – eine deutlich erkennbare Fraktur.«
    Boschs Kiefermuskeln traten
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