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Tagebuch aus der Hölle (German Edition)

Tagebuch aus der Hölle (German Edition)

Titel: Tagebuch aus der Hölle (German Edition)
Autoren: Jeffrey Thomas
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damit ich mich auf den Dachboden schleichen und den ganzen Tag dort verbringen konnte. Es war keine geplante Geste der Missachtung, es passierte einfach. Es war mein Instinkt. Mein individueller Geist der stillen Meuterei.
    Genauso fühlt es sich jetzt auch an, mit dem schweren, umgedrehten Buch in meinen Händen. Damals war es ein dünnes Heft mit Eselsohren, aber dieses Buch ist in lebendige Haut gebunden, und auf dem Einband befindet sich ein einzelnes menschliches Auge. Ich habe beobachtet, wie es meinen Bewegungen folgt, und ich weiß, dass es sich meiner Anwesenheit bewusst ist. Anfangs hielt ich es für ein Instrument der Dämonen, das ihnen dabei hilft, mich auszuspionieren, aber ein erfahrenerer Klassenkamerad erzählte mir, das Auge sei alles, was von einem gewissen Schriftsteller übrig geblieben ist, der vermutlich dafür bestraft wurde, dass er frivole Bücher höher schätzte als die Erhabenheit seines Vaters … und dafür, dass er nie die Bibel gelesen hat, trotz seiner Leidenschaft für das geschriebene Wort.
    »Es tut mir leid«, flüsterte ich dem blauen Auge zu, das mir stumm zublinzelte, während das Buch in meinem Schoß ruhte. »Ich werde mich um dich kümmern. Ich werde nicht zulassen, dass dir noch mehr Leid angetan wird.«
    Darüber musste ich beinahe lachen. Wie viel Leid konnte man dieser Seele denn noch zufügen? Selbst wenn jemand eine Zigarette in dem fleischigen Einband ausdrückte, wäre das gar nichts. Trotzdem glaube ich, dass es meine Worte verstand – oder zumindest die Gefühle dahinter. Ich sah, wie sich eine feuchte Schicht über dem Auge bildete, und dann brach sich eine Träne Bahn und rann über die vernarbte, verbrannte Haut.
    »Ich wünschte, ich wüsste, wer du warst. Vielleicht habe ich deine Worte ja gelesen«, sagte ich zu dem Buch. »Vielleicht habe ich mich dank dir ja weniger einsam gefühlt. Vielleicht habe ich dich ja auf dem Dachboden gelesen.« Ich wischte eine Träne aus dem einsamen Auge. Vorsichtig fuhr ich mit meinen Fingerspitzen über die harten Narben und streichelte sie sanft. Kurz darauf schloss sich das Auge im Schlaf. Ich bilde mir ein, ihm zumindest ein wenig Trost geschenkt zu haben.
    Ich klemmte das Buch unter meinen Arm, während ich über den Hof schlenderte, obwohl ich auch einen Sack über der Schulter trug, in dem ich es hätte transportieren können. Der Sack schien irgendein getrocknetes Organ eines großen Tieres zu sein, war mit Brandwunden überzogen und ganz schwarz. Jeder von uns hatte so einen. Wir trugen auch alle dieselbe Schuluniform aus schwarzem Hemd, schwarzer Hose und schwarzen Stiefeln. Wir hatten sogar jeder ein Paar weiße Socken und ein Set weiße Unterwäsche.
    In meiner ersten Nacht – jedenfalls vermutete ich, dass es Nacht war – fingerte ich an dem Gummiband meiner Unterhose herum und lachte und schluchzte stumm. Dies konnte nicht mein echtes Fleisch sein. Mein echtes Fleisch liegt einbalsamiert in einem Sarg. Das hier musste irgendwie angefertigt worden sein: Irgendwie muss meine Seele zu Materie fossilisiert sein, wie ein Klon, ein aus Ektoplasma geformter Golem, eine Illusion. Unsere Lehrer haben es uns nicht erklärt. Aber was ist mit meiner Unterwäsche? Ist sie auch eine Illusion? Ist sie eine Erweiterung meiner Seele? Oder ist sie hundert Prozent Baumwolle? Sitzen in den Ausbeuterbetrieben der Hölle asiatische Kinder den ganzen Tag und die ganze Nacht an Nähmaschinen und produzieren am laufenden Band Unterwäsche für die Wal-Mart-Kette der Hölle?
    In eine Mauer des Innenhofs ist in mannshohen, mit Rost gefüllten Buchstaben folgende Inschrift eingraviert:
    LEICHT GEHT ES HINAB ZUM AVERNUS
– VIRGIL
    Wie ein Häftling auf Hofgang umrundete ich den Innenhof, allerdings nicht, um mich fit zu halten. Es erweckte in mir die traurige Vorstellung, ich ginge irgendwohin, fort von hier. In einem sumpfigen Teich in der Mitte des Hofs hatte sich während des letzten Sturms eine Pfütze aus Blut gebildet, die noch immer recht voll war. Ich schätze, die dornigen Büsche und verwachsenen Miniaturbäume dort sollen einen Garten darstellen. Aus der Mitte des Gartens ragt bedrohlich eine schwarze Metallskulptur irgendeines bedeutenden Dämons auf – ich wollte ihm nicht die Ehre erweisen, seine Gedenktafel zu lesen. Den Eisenschädel dieser widerwärtigen Kreatur umgeben smaragdgrüne Flammen. Als ich über die turmhohe Statue rauf zum Himmel blickte, sah ich, dass er zu einer wogenden Masse aus schwarzem Rauch geworden
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