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Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Autoren: Max Frisch
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Würde. Wenn es je zu einer Brandstiftung kommt, so darum.
     
    Früher brauchte er sich nichts gefallen zu lassen; ein Draufgänger, Erfolg bei Frauen usw. Noch vor kurzem brauchte er sich vieles nicht gefallen zu lassen, weil es gar nicht dazu kam. Zum Beispiel: sie hat das Foto von Straßburg einfach von der Wand genommen, verschwinden lassen. Seine Frau fürchtet jetzt immer, daß er sich lächerlich mache. Wenn jemand beieinem Fehlanruf einfach aufhängt, ohne sich zu entschuldigen, nimmt er's persönlich; er sagt nochmals: Huber! obschon der andere eben aufgehängt hat. Hinten in seinem Laden (vormittags) sitzt er bei Neon-Licht, die Lupe in die Augenhöhle geklemmt; seine Frau spricht mit den Kunden, er fast nicht mehr, oder wenn ein Kunde mit dem Goldschmied selbst sprechen will, beugt er sich über den Tisch, damit der Kunde nicht sein Gesicht sehe. Es gibt noch Leute, die seine Broschen kaufen. Meistens sagt er nichts, überhaupt nichts, wundert sich nur, was eigentlich los ist, daß er sich alles gefallen läßt. Vielleicht meint sie, daß der Goldschmied es nicht einmal merkt. Dann fragt sie jedesmal: »Hast du wirklich die Wohnung abgeschlossen?« Manchmal blickt der Goldschmied sie einfach an: als wäre er imstande sich aufzuhängen. Einer der Kellner, der junge Spanier, hat es auch gemerkt, wird freundlicher, seit der Goldschmied seinen Mantel nicht mehr auszieht; dazu trägt er die Baskenmütze, packt Fleischkäse aus einem knisternden Papier; offenbar geht er zum Abendessen nicht nach Haus. Wenn der Goldschmied mit jemand Streit hat, weiß er, daß sie auf der Seite der andern ist von vornherein; da braucht er gar nichts zu erzählen. Sie will immer sein Bestes und tut, als mache er nur noch Fehler. Manchmal will er Schluß machen. In der Bodega macht es ihm nichts aus, wenn die Aschenbecher schmutzig sind. Einmal muß sie's sagen: »Der ganze Schmutz kommt ja von dir.« Das kann man ihm beweisen. Es ist immer besser, wenn er nichts sagt. Eine Stunde nachdem er aus der Toilette gekommen ist, merkt der Goldschmied, daß seine Hose nicht zugeknöpft ist; vielleicht ist das schon öfter vorgekommen, und der Goldschmied hat's überhaupt nicht bemerkt. Im Mantel fühlt er sich sicherer. In der Bodega erinnert er sich an einen Fall, von dem er als Schüler gehört hat: ein Arbeiter, Mineur, der Speiseröhrenkrebs hatte, legte sich eine Zündkapsel in den Mund; sein Hirn verspritztein den Arkaden beim Hechtplatz. Der wollte es gräßlich, wie der Goldschmied es eigentlich nicht will. Gegen 6 Uhr wird die Bodega voll, dann macht er Platz; er sitzt ja schon im Mantel, und es fällt nicht auf, wenn er geht. Das Geld legt er vorher auf den Tisch. Ein andrer Fall: als Kunstgewerbeschüler, als er in Wiedikon mit seiner Mutter wohnte, hörte er beim Zähneputzen im Badezimmer einen ungewöhnlichen Ton aus dem unteren Badezimmer, nicht sehr laut, ungefähr so wie wenn jemand mit einem kleinen Hammer den Spiegel zerschlagen hätte, nur ohne Klirren danach; ein Schuß; nach zwei Stunden trugen sie den Sarg aus dem Miethaus. Je älter man wird, um so schlichter möchte man's. Auf dem Albis kennt er Plätze genug, die sich eignen; es braucht ja nicht am Sonntag zu geschehen, wenn es viele Spaziergänger gibt, Familien mit Kindern. Manchmal denkt er: Ich häng mich auf! beispielsweise wenn sie sagt: »Rede nicht, sondern denke.« Er kommt immer regelmäßiger in die Bodega. Wenn er sich gesetzt hat, sieht er sich die Leute vorerst an; dann denkt er. Was eigentlich? Ein junger Bart mit Langhaar am runden Tisch sagt: Guten Appetit. Später hört er von einem Nebentisch das Wort: Schwanz. Der Goldschmied muß aufpassen, daß er nicht alles auf sich bezieht; überhaupt muß er immerfort aufpassen. (Nicht nur wenn er aus der Toilette kommt.) Ein Leben lang hat er sich bemüht, nicht widerlich zu werden, ein Leben lang hat er immer das Klo-Fenster geöffnet, in der Eisenbahn hat er immer den Mantel über sein Gesicht gezogen, wenn er schlafen wollte. Jetzt in der Bodega kennt man den Goldschmied nur noch im Mantel: ein Alter, zufrieden mit Fleischkäse und Clarete. Kein Trottel, wie sie zu Hause meint, aber er muß aufpassen. Wenn er in der Bodega das Geld auf den Tisch legt, zählt er's zweimal, nach einer Weile sogar ein drittes Mal. Ein Sprung von einem Aussichtsturm wäre sicher, aber wenn er es sich ausdenkt: widerlich für dieHinterlassenen, und ein Leben lang hat er sich bemüht, nicht widerlich zu werden. Der
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