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Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Autoren: Max Frisch
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    Niemand glaubt sein Märchen –
     
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    Sein Haus mit den kleinen Fenstern, die steile Treppe, das gewohnte Geschirr usw., er sieht sich nicht um, weiß schon, daß alles an seinem Ort ist. Edamer oder Heringe aus dem Faß oder Wurst, gleichgültig was, er frißt, Blick zum Fenster hinaus. Alles ist so, wie es ist: Hier also ist er zu Haus.
     
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    Nicht einmal Todesfälle im Dorf.
     
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    So ist es nicht, daß sie den alten Rip nicht mehr kennen. Sein Gehilfe sagt, ein Kunde habe schon zweimal Krach geschlagen. Nichts Neues. Man kennt ihn als Säufer; schon öfter haben sie ihm zeigen müssen, wo Rip van Winkle zu Hause ist. Jetzt ist er aber nüchtern.
     
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    Warum erzählt er solche Märchen?
     
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    Zwar macht er weiter: Fässer, wie er's gelernt hat. Am Feierabend spielt er Karten, spricht holländisch und trinkt, am Sonntag geht er nach Coney Island, um Hasen zu schießen, oder auf die schwarzen Felsen von Manhattan. Sein Leben. Er wundert sich, wenn sie ihn grüßen, als wäre nichts geschehen. Alle andern, sein braves Weib und die Nachbarn, die Kunden, die Kumpane, die über sein berühmtes Märchen lachen, glauben es, daß das sein Leben ist –
     
     
    SS. FRANCE, 8. 6. 1971
     
    Europa in Sicht, das Schiff folgt jetzt einem Lotsen, man steht auf Deck, die Koffer sind gepackt, wir fahren aber noch immer, man hat auch keinerlei Eile, man ist froh, zu sehen, daß es immer noch fährt –

Die Säule
    Der Große Brockhaus nimmt sich ihrer nicht an. Ab und zu ein Gast, der sie anfaßt, um mit der Hand festzustellen: Granit, ja, Granit. Eine grobe und rührende Säule. Manche fragen auf den ersten Blick: War die schon immer da? Unser Dorf hat keine Chronik, nur Inschriften an der verlassenen Kapelle und an einigen Häusern: 1682, 1664 usw. Wahrscheinlich ein Steinmetz von Beruf, tätig außerhalb seines heimatlichen Tals, das keine Aufgaben hatte für ihn, hat die Säule gehauen für sich selbst. Er hat nichts erfunden, kein Carlo Madermo, der auch aus dieser Gegend stammte. Eigentlich ist nichts zu sagen, nachdem man sie mit der Hand berührt hat und mit Kenntnis: Toskanisch! Am Sockel übrigens ist etwas abgesprengt, nicht schlimm. Sie wird uns überdauern. Ein grauer und spröder Stein aus der Gegend. Der Große Brockhaus meldet zuverlässig: Die dorische Säule, die ionische Säule, die korinthische Säule, wie in der Schule gelernt und später gesehen in Sunion, Korinth, Olympia, Athen, Delphi, Paestum, Selinunt, Baalbek usw.; aber die Säule, die unsere kleine Loggia hält, erinnert mich nie an Reisen. Wenn wir den schwarzen Kaffee trinken, teilt sie für uns das Tal. In ihrer unteren Hälfte ist sie etwas bauchig, überhaupt nicht glücklich in den Proportionen. Man sitzt in Korbsesseln, Nacht mit Wetterleuchten, davordie Säule, von der man nur weiß: Einer hat sie gehauen, denn da steht sie und trägt. In den Sommern, so nehme ich an, hat er bei fremden Herrschaften gehauen oder an Kirchen im Süden, wo er einen Meister hatte; im Winter mußte er nach Hause und hatte Zeit, viel Zeit für Granit. Warum er nach Hause mußte, weiß ich nicht; wahrscheinlich hatte er hier die Familie. Granit ist nicht Marmor; die Form, die er im Gedächtnis hatte, bleibt schwächer als der körnige Stein. Und dann vor allem: sie steht allein. Alles andere an dem Haus ist gewöhnlich und recht; das bäurische Gebälk, die Fensterbänke aus dem gleichen Granit, der große Kamin usw. sind nicht verwandt mit ihr. Eine Säule wie ein Gast. Sie ist nicht ganz mannshoch, steht aber auf einer Brüstung; man kann, wenn man steht und mit jemand redet, die Hand an ihr Kapitell legen und tut es auch ab und zu, denn sie ist nicht feierlich. Es kommt vor, daß ich die Pfeife dran ausklopfe. Wir kennen natürlich ihre große Familie, inbegriffen die glatten Bastarde an den Banken in aller Welt. Sie aber kennt ihre Herkunft nicht. Manche bemerken sie auch gar nicht, so scheint es, und dann stelle ich die Säule nicht vor. Später dann, wenn unser Gespräch einmal stockt, wieder die Frage: War diese lustige Säule schon immer hier? Immer nicht; einmal hat einer sie gehauen. Ich könnte mit denken, daß er stolz darauf war. Nur der Kranz unter dem Kapitell liegt klassisch, aber auch er ist zufällig-prall wie eine Wurst. Wenn man die Zeitungen vom Tage gelesen hat und zur Seite legt, eine Weile müßig in dem Bewußtsein unsrer Ohnmacht, steht sie unerschüttert, nicht stolz, aber brav.
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