Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Autoren: Max Frisch
Vom Netzwerk:
Bühne aus, alles noch ungenau, vor allem der Auftritt der Sünder, es wird dazwischen geredet, ein Hin und Her; aber die Urteile gelten. Dann schauen sie zurück ins Publikum: Ist Familie da, die zahlt? Das kommt vor.
    Jemand winkt mit einer Hand voll Noten; manchmal auch nur ein Achselzucken, wenn's nicht reicht, oder es ist überhaupt niemand im Saal:dann geht's durch die Türe, dahinter viele Polizisten in blauem Hemd, und einen Augenblick lang sieht man Gitter, die aufgehen und zugehen. Wie die Verschläge für Geflügel. Einzig ein Weißer wird renitent, als der Hemdärmlige mit Kokarde ihn am Arm faßt, um ihm den Weg zu weisen, den er kennt. Wenn die lange Bank sich leert, läßt man die Nächsten herein. Viele Junge. Das Verfahren sieht wie Stellenvermittlung aus. Keine Aufregung. Der nächtliche Richter blättert in den Rapporten, die ihm zugeschoben werden, ohne Blick auf den Delinquenten. Der Anwalt fragt unterdessen den Delinquenten nicht unfreundlich, meldet etwas dem Richter, der nur selten eine Frage stellt; er kennt ja die Antworten. Nur ein schwarzer Schüler behauptet vernehmlich und hartnäckig, aber ruhig, er sei unschuldig. Es scheint aber nicht zu stimmen. Leider; denn die Gefängnisse sind überfüllt, man weiß es: zurzeit vier Personen in einer Einzelzelle.
    Es ist Mitternacht. In den meisten Fällen handelt es sich um Drogen, zurzeit die beste Verdienstmöglichkeit für ungelerntes Volk. Ein Alter, schwarz wie die ersten Sklaven, scheint den Anwalt nicht zu verstehen; seinen Hut in der Hand, als fühle er sich durch den Staatsakt geehrt, blickt er bald zum Anwalt, bald zum Kläger, bald zum Richter, gläubig wie in einer Klinik; der Befund: 3 Tage Gefängnis, und er nickt wie ein Patient. Es ist keine Farce; das Verfahren hält sich ans Gesetz. Neben mir schläft das Kind einer schwarzen Matrone, die immer noch auf ihren Sohn wartet. Ein Freispruch kommt auch vor; ein Mädchen, das etwas verkrüppelt ist, schlampig, aber es darf gehen. Es scheint, daß sie aber kein Geld hat für die Subway, und im Gerichtssaal darf man nicht betteln. Wie kommt sie etwa nachBrownsville? Gegen ein Uhr nachts, als wir aufbrechen, geht das Gericht weiter; da liegt noch ein Berg von blauen Rapporten –
    PS.
    Was ich nicht gewußt habe, was aber Uwe Johnson, der Glaubwürdige, in Berzona mitteilt: außerhalb jenes Gebäudes (Gericht und Gefängnis unter einem Dach!) befinden sich Stellen, wo das Kautions-Geld zu leihen ist zu Wucherzinsen und kurzfristig. Heute 500 Dollar auf den Tisch, dann mußt du nicht ins Gefängnis und beschaffst bis Samstag die 600 Dollar. Wie? Dagegen greift der Sternenbanner-Staat (IN GOD WE TRUST) nicht ein, das ist FREE ENTERPRISE, eine Selbstverständlichkeit: Grundlage der westlichen Freiheit.
     
    Ein Großkaufmann aus Hamburg, seit Jahren hier tätig, begründet seine Hochachtung vor diesem Land: Hier gelten keine Klassenunterschiede und so, nur Unterschiede der Tüchtigkeit.
     
     
    »Sie haben das Recht sich zu verteidigen. Eine Anklage liegt nicht vor, aber vielleicht wollen Sie sich trotzdem verteidigen. Zum Beispiel haben Sie in einer Gesellschaft gelebt, die Sie als verrucht bezeichnen, Sie haben Veränderungen gefordert usw., das geht aus Ihren zahlreichen Worten hervor, nicht aus Ihren Handlungen. Oder finden Sie, daß Sie nach Ihrem ausdrücklichen Bekenntnis gehandelt haben? Laut Dossier liegt nichts vor. Ihr Bekenntnis als solches steht nicht unter Anklage, ebensowenig der Lebenslauf als solcher. Im Sinn der Gesellschaft, die Sie anklagen, haben Sie keine nennenswerte Straftat begangen; laut Dossier haben Sie kaum anders gelebt als andere Nutznießer, die diese Gesellschaft in Ordnung finden.«
     
    . . .
     
    »Berufen Sie sich auf Resignation?«
     
    . . .
     
    »Die Geschworenen, die Sie hier sehen, haben Sie selber wählen können. Es gäbe andere. Aber Sie haben gewählt: einen alten Schulfreund, dem Sie viel zu verdanken meinen, Tolstoj und Kafka und Brecht und andere Schreiber, Ihre leiblichen Kinder, ferner Nachbarn, die allerlei Alltägliches wissen, einige Kumpane, auch Kollegen, Frauen, einen Juden, einen Arbeiter, einen Neger, kurzum Leute aus allen Schichten, einige Philosophen, soweit Sie diese verstanden zu haben meinen, einen verstorbenen Lehrer, ferner einen Hippie, der nicht gekommen ist.«
     
    . . .
     
    »Sie haben, obschon Sie von einer verruchten Gesellschaft sprechen, nie Macht ausgeübt oder auch nur versucht, Macht auszuüben. Vielleicht
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher