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Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Autoren: Max Frisch
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Hinschied leid tun?
     
    18.
    Möchten Sie lieber mit Bewußtsein sterben oder überrascht werden von einem fallenden Ziegel, von einem Herzschlag, von einer Explosion usw.?
     
    19.
    Wissen Sie, wo Sie begraben sein möchten?
     
    20.
    Wenn der Atem aussetzt und der Arzt es bestätigt: sind Sie sicher, daß man in diesem Augenblick keine Träume mehr hat?
     
    21.
    Welche Qualen ziehen Sie dem Tod vor?
     
    22.
    Wenn Sie an ein Reich der Toten (Hades) glauben: beruhigt Sie die Vorstellung, daß wir uns alle wiedersehen auf Ewigkeit, oder haben Sie deshalb Angst vor dem Tod?
     
    23.
    Können Sie sich ein leichtes Sterben denken?
     
    24.
    Wenn Sie jemand lieben: warum möchten Sie nicht der überlebende Teil sein, sondern das Leid dem andern überlassen?
     
    25.
    Wieso weinen die Sterbenden nie?
     
     
    NEW YORK, Mai
     
    Bäume grünen in den Höfen, Bäume wie richtige Bäume, man schaut hinunter auf ihr grünes Laub nicht ohne Rührung: diese Tapferkeit des Chlorophylls!
     
    Anruf von einem Landsmann, der hier lebt und den ich, da er ein verwirrtes Englisch spricht, zur heimischen Mundart einlade. Daraufhin fragt er noch verwirrter: »But who are you?« Er spricht im Auftrag eines Freundes aus Gockhausen (Schweiz) und glaubt nicht, daß ich am Apparat bin, und möchte mit meiner Frau sprechen, die aber ausgegangen ist. Er wiederholt: »Who are you?« Trotz Mundart glaubt er's noch immer nicht, möchte lieber meine Frau fragen, ob die Todesnachricht, heute von der UPI gekabelt, wirklich nicht stimmt. Der Ausspruch von Mark Twain in gleicher Lage (– Nachricht stark übertrieben) ist ihm nicht bekannt. Eigentlich haben wir schon eine Weile miteinander geredet, als er nochmals fragt: »But who are you?« Übrigens wohnte Mark Twain in der gleichen Straße gegenüber.
     
    Eine schwarze Haushilfe bei Freunden lernt jetzt Lesen und Schreiben, nimmt vier Unterrichtsstunden in der Woche, bittet um ein Buch, das ich geschrieben habe; ihr erstes Buch. Sie ist 65. Unsere Haushilfe, ebenfalls schwarz, kommt nicht mehr; ich hörte sie laut lachen, dann reden, sie stand im Zimmer und rauchte eine Zigarette in einem beinahe zahnlosen Mund und blickte hinaus durch die Wand; sie hört Stimmen. Die neue Hilfe, eine Schwarze aus Westindien, putzt sehr gründlich, aber ungern, wie sie freundlich sagt; sie komponiert Lieder und singt sie, sucht einenAgenten, um ins Plattengeschäft zu kommen; sie will uns ihre Musik einmal vorführen auf Tonband. Nur Musik habe Sinn in der Welt. Sie ist schätzungsweise 50, wohnhaft in Brooklyn.
     
    Ein Toter auf der Straße (Bowery) am Nachmittag; Polizei schon zur Stelle, zwei Mann, das genügt, wir fahren weiter wie alle.

Rip van Winkle
    Es geht ihm aber immer so, wenn er nach einiger Zeit wieder zu Hause ist. Dann verwundert ihn alles, was an seinem gewohnten Ort steht.
     
    . . .
     
    Die Schlucht, wo die zechende und kegelnde Herrengesellschaft den verirrten Rip van Winkle jahrelang zu ihrem Kegelknecht und Mundschenk gemacht hat, könnte im heutigen Morningside Park sein oder noch weiter draußen, wo das Rockefeller-Kloster steht. Das Märchen sagt nur: Manhattan.
     
    . . .
     
    Erwacht auf den schwarzen Felsen von Manhattan, die Flinte neben sich, reibt er sich das Gesicht, erschreckt, aber klar im Kopf, obschon sein Atem nach Branntwein riecht. Vermutlich ist es ein fernes Gewitter gewesen, was er im Schlaf gehört hat. Es sind nicht Kegel. Hingegen der Branntwein ist nichtgeträumt. Das Gewitter hat sich verzogen. Abend über dem Hudson. Es können nicht Jahre gewesen sein; sein Hund, zum Beispiel, ist noch immer jung.
     
    . . .
     
    Er hat ein Weib und hat es auch im Traum nicht vergessen, hat es den Herren in niederländischer Tracht jahrelang gesagt; nur kam er ja im Traum nicht los.
     
    . . .
     
    Der Pfad (heute Broadway) ist ein langer Pfad; unterwegs wird es Nacht, unterwegs die Angst, daß niemand mehr dort sei, der ihn kennt. Wie das denn wäre.
     
    . . .
     
    Diese kegelnde Herrengesellschaft!
     
    . . .
     
    Als er zurückkommt ins Dorf (New Amsterdam) und sich im Morgengrauen umsieht: nichts verändert. Die Hühner sind auch noch da. Vollzählig. Sie schlafen nur, die Zeitgenossen. Schiffe im Hafen; eines ist inzwischen ausgefahren, ein andres liegt jetzt vor Anker. Was sonst? Die Zeit ist stehengeblieben. Sein Weib glaubt ihm kein Wort, sagt, es sei Mittwoch. Natürlich hat sie sich Sorgen gemacht; es hätte ihm ja wirklich etwas zustoßen können da draußen.
     
    .
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