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Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Autoren: Max Frisch
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wäre es in bescheidenem Rahmen möglich gewesen. Warum haben Sie nie versucht, Macht auszuüben?«
     
    . . .
     
    »Eine Anklage, wie gesagt, liegt nicht vor, wenn Sie sich nicht selber anklagen. Sie haben sich also damit begnügt, vergleichsweise schuldlos zu sein?«
     
    . . .
     
    »Sie schweigen.«
     
     
    NEW YORK, Mai
     
    Donald Barthelme sagt: Ihr (Europäer) seid glücklichere Menschen. Wieso? Marianne macht ihre erfolgreichen Speck-Zwiebel-Kalb-Rosmarin-Spieße, ich richte das Feuer, wenn auch mit unbekannten Hölzern. Was ist anders als im Tessin? Der Bach nebenan rauscht nicht anders; Vorsicht vor Schlangen empfiehlt sich auch im Tessin … Neulich tauchte Jürg Federspiel auf, später kam Jörg Steiner auf Besuch; was im Vaterland geschieht, ist bald gemeldet; man hat sich mehr zu sagen in der Fremde … Dann und wann verwundert es mich wieder, wie leicht es einem fällt, alle schon nach einer Stunde nur noch beim Vornamen zu nennen: Donald, Mark, Elisa, Joe, Frank, Lynn, Harrison, Tedd, Patricia, Stanley, Steven usw. Ich könnte nicht sagen, wen ich dabei duze, wen nicht. Ein Landsmann, schon seit Jahren hier ansässig, schaltet mit dem Vornamen (jede andere Anrede käme ihm komisch vor, steif, unnatürlich) sogleich auf Du; es tönt wie eine falsche Übersetzung. So meinen sie es wohl nicht, wenn sie sagen: Max, do you know. Es entspricht einer Redeweise, die wir auch kennen: Jürgen, wissen Sie. Die amerikanische Freundschaftlichkeit ist nicht oberflächlicher, wie immer wieder behauptet wird; ihr Ausdruck dafür ist ambivalenter als das Du in unsrer Sprache, das sich leichter abnutzt in seiner voreiligen Verbindlichkeit … Es kommt vor, daß man sich auf der Straße trifft, also unter Millionen, wie in einem Dorf; aber es ist kein Dorf: jedermann weiß, daß die andern auch ohne ihn auskommen, und dies ohne Gekränktheit. Das macht beide Teile herzlich. Sie sind hilfsbereiter als in den kleinen Städten, und man wird es selber auch; ausDankbarkeit wechselseitig. Trifft man sich nach Wochen zufällig in einem Party-Gedränge, so begrüßt man sich wie beim Durchstich eines Tunnels: HOW WONDERFUL TO SEE YOU! und es ist wahr.
     
    Ende des Seminars.
     
    Bar am Hudson nachmittags. Hafenarbeiter beim Billard, Bier, das man aus der Büchse trinkt. Schon beim zweiten oder dritten Besuch, ohne daß man bisher ein Wort gesprochen hat, grüßen sie –

Fragebogen
     
    1.
    Haben Sie Angst vor dem Tod und seit welchem Lebensjahr?
     
    2.
    Was tun Sie dagegen?
     
    3.
    Haben Sie keine Angst vor dem Tod (weil Sie materialistisch denken, weil Sie nicht materialistisch denken), aber Angst vor dem Sterben?
     
    4.
    Möchten Sie unsterblich sein?
     
    5.
    Haben Sie schon einmal gemeint, daß Sie sterben, und was ist Ihnen dabei eingefallen:
a.
was Sie hinterlassen?
b.
die Weltlage?
c.
eine Landschaft?
d.
daß alles eitel war?
e.
was ohne Sie nie zustande kommen wird?
f.
die Unordnung in den Schubladen?
     
    6.
    Wovor haben Sie mehr Angst: daß Sie auf dem Totenbett jemand beschimpfen könnten, der es nicht verdient, oder daß Sie allen verzeihen, die es nicht verdienen?
     
    7.
    Wenn wieder ein Bekannter gestorben ist: überrascht es Sie, wie selbstverständlich es Ihnen ist, daß die andern sterben? Und wenn nicht: haben Sie dann das Gefühl, daß er Ihnen etwas voraushat, oder fühlen Sie sich überlegen?
     
    8.
    Möchten Sie wissen, wie Sterben ist?
     
    9.
    Wenn Sie sich unter bestimmten Umständen schon einmal den Tod gewünscht haben und wenn es nicht dazu gekommen ist: finden Sie dann, daß Sie sich geirrt haben, d.h. schätzen Sie infolgedessen die Umstände anders ein?
     
    10.
    Wem gönnen Sie manchmal Ihren eignen Tod?
     
    11.
    Wenn Sie gerade keine Angst haben vor dem Sterben: weil Ihnen dieses Leben gerade lästig ist oder weil Sie gerade den Augenblick genießen?
     
    12.
    Was stört Sie an Begräbnissen?
     
    13.
    Wenn Sie jemand bemitleidet oder gehaßt haben und zur Kenntnis nehmen, daß er verstorben ist: was machen Sie mit Ihrem bisherigen Haß auf seine Person beziehungsweise mit Ihrem Mitleid?
     
    14.
    Haben Sie Freunde unter den Toten?
     
    15.
    Wenn Sie einen toten Menschen sehen: haben Sie dann den Eindruck, daß Sie diesen Menschen gekannt haben?
     
    16.
    Haben Sie schon Tote geküßt?
     
    17.
    Wenn Sie nicht allgemein an Tod denken, sondern an ihren persönlichen Tod: sind Sie jeweils erschüttert, d.h. tun Sie sich selbst leid oder denken Sie an Personen, die Ihnen nach Ihrem
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