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Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Autoren: Max Frisch
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Nicht einmal ihre Kleider haben sie mitgenommen, ihre Schuhe, ihr persönliches Zeug. Erst nach Wochen blieb das elektrische Licht aus, weil niemand die Rechnung bezahlte; das fiel auf … Inzwischen wurde einiges gestohlen; die Haustüre war nicht geriegelt; ein Portal mit naivem Sgrafitto, darüber ein Balkon, dessen Geländer verrostet ist, die grünen Jalousien sind jetzt geschlossen, der Verputz (Yoghurt mit Himbeer) fladenweise abgebröckelt. Im Garten steht eine Tafel: CASA DA VENDERE, wie ich höre: schon seit Jahren.

Der Goldschmied
    Er wird ein schlimmes Ende nehmen. Das weiß er, wenn er in der Bodega sitzt. Der spanische Kellner, wenn er den Dreier Clarete auf den Tisch stellt, blickt anderswohin, spricht schon zum nächsten Tisch. Sein Vater starb einfach an Herzschlag; im Bus. Kommt jemand in die Bodega, der den Goldschmied von früher kennt, so bleibt der Goldschmied nicht lang, legtsein Geld hin, sowie der alte Bekannte sich setzt. Er versteht's nicht, daß ein Lehrling ihn fertig macht. Als junger Mann, damals nach der Kunstgewerbeschule, arbeitete er im Ausland (Straßburg); 1939 kehrte er zurück. Er hat den Lehrling entlassen und einen andern genommen: auch der neue läßt den Wasserhahn tropfen. Vermutlich ist er ein Pedant nicht nur in seiner Werkstatt; 27 Jahre Arbeit mit der Lupe. Kommt er von seiner Arbeit nach Hause, hält er eine schmutzige Küche nicht aus. Zum Beispiel. Manchmal denkt er an Brandstiftung. Sie weiß es, daß er eine schmutzige Küche nicht aushält, und findet es nachgerade lächerlich, daß das sein Problem ist. Der spanische Kellner in der Bodega behandelt ihn freundlich, aber nachlässiger als alle andern Gäste. Er wagt nicht zu verlangen, daß sie die Küche in Ordnung hält. Sie hat es auch früher nie getan; offenbar ist er empfindlicher geworden, seit er als Mann ein Versager ist. Schon seine Bitte, sie möge das Geschirr nicht tagelang stehen lassen, weil es ihn einfach ekle, führt zu Spannungen. Schließlich ist sie diplomierte Kindergärtnerin und nicht seine Magd. Die Küchen-Spannungen enden jeweils damit, daß ihm seine Lächerlichkeit bewußt wird; wenn es soweit ist, wäscht sie wortlos das Geschirr, aber nicht vorher. Sein Laden mit Werkstatt liegt in einer Gasse der Altstadt, wo Brandstiftung viel ausrichten würde vor allem nach Mitternacht. Wenn der Goldschmied, allein zu Hause, das Geschirr wäscht und trocknet und auch den Boden der Küche reinigt, weiß er, daß sie keinen Grund hat zu danken; es ist ein offener Vorwurf. Dann und wann tut er's trotzdem, weil ihn das ungewaschene Geschirr ekelt. Wieso nimmt sie keinen anderen Mann? Tut er's nicht und wartet er, bis sie das Geschirr wäscht, so muß er sich zusammen nehmen, daß er sich nicht bei ihr entschuldigt; sie ist ja wirklich nicht seine Magd. Einigermaßen wohl fühlt er sich nach dem ersten Zweier in der Bodega; er trinkt selten mehr. Aber der Zweier hält nicht langean. Nachher geht er nochmals in die Werkstatt, wenn die Angestellten weg sind; er stellt den tropfenden Wasserhahn ab. Einmal ein schwerer Fehler in der Buchhaltung, den sie gemacht hat; er sagt ihr nichts davon. Er erwirbt sich keine Achtung, wenn er sie kränkt. Wenn sie eine Woche bei ihren Eltern ist, stört ihn das ungewaschene Geschirr in der Küche nicht; er spült es erst am letzten Abend, bevor sie zurückkommt. Sein Einkommen ist nicht groß, aber es reicht. Wäre es nicht das Geschirr in der Küche, so wäre es etwas anderes, was ihm zeigt, daß sie seine Wünsche zu erfüllen kein Bedürfnis hat. Das weiß er. Natürlich geht es nicht um das Geschirr. Das alles weiß er. Es ist lächerlich. Er tut ihr leid. Sie kommt nicht mehr in die Bodega, um ihn zu holen; er empfindet es als Entmündigung, wenn sie ihn holt. Er ist schwierig. Das war immer so: wenn er einmal krank ist, gibt sie sich rührende Mühe. Das bleibt. Früher hatte er Freunde; er ruft sie kaum noch an, scheut sich, weil es lächerlich ist, was ihn beschäftigt. Was man eheliche Auseinandersetzung nennt, kommt vor, aber er meidet solche Auseinandersetzungen; dann sagt er genau, was er nicht hat sagen wollen: die Sache mit dem ungewaschenen Geschirr. Zum Beispiel. Zeitweise gibt sie sich Mühe. Sein Interesse an öffentlichen Angelegenheiten (Sanierung der Altstadt) ist erloschen; zwar liest er den TAGESANZEIGER , wenn er in der Bodega sitzt. Verglichen mit allem, was in der Zeitung steht, ist es lächerlich, was ihn beschäftigt. Es ist unter seiner
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