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Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Autoren: Max Frisch
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Goldschmied weiß, es müßte bald geschehen. Geboren bei Zürich (Adliswil) und aufgewachsen in Zürich, kennt er natürlich die Mühlebachstraße und die Mühlegasse; trotzdem hat er auf der Straße eben die verkehrte Auskunft gegeben. Zum Glück war sie nicht dabei. Wenn sie vor dem Fernsehen sitzen: seine Meinung überzeugt nie, er ist immer für Leute, die seine Frau nicht überzeugen, zum Beispiel für Willy Brandt. Einmal denkt er auch an Gashahn; nur gibt es in der Wohnung keinen Gashahn. Sie will immer sein Bestes: zum Beispiel, daß er unter Leute gehe. Nachher sagt seine Frau, daß wieder nur er die ganze Zeit geredet habe, daß er den andern nicht zuhöre usw., der Goldschmied weiß bloß, daß es niemand überzeugt, wenn der Goldschmied einmal auch etwas sagt. Sicher und für die Hinterbliebenen nicht widerlich ist einzig die Schlafmittel-Methode, die er unmännlich findet; immerhin hat er in den letzten Monaten angefangen, Schlaftabletten zu sammeln, versteckt sie in der Werkstatt. Aber auch dazu muß der Mensch aufgelegt sein; es genügt nicht, daß einer keine Angst hat. Man nimmt nicht dreißig Schlaftabletten einfach so, wirft sie aus der flachen Hand in den Mund, jeweils drei oder vier, die jedesmal mit Wasser hinunter zu spülen sind oder mit Chianti. Wenn der Goldschmied, um dazu aufgelegt zu sein, Streit anfängt wegen einer Lappalie (wieder hat sie den TAGESANZEIGER von heute weggeworfen), ist sie vernünftig. Sogar mütterlich; nachher kocht sie seine Lieblingsspeise, läßt ihn Fernsehen einschalten. Später entschuldigt er sich. Was schlimmer und schlimmer wird, liegt nicht an ihr: »Kindisch!« das sagt man eben so; sie hat es nicht so gemeint, wie er es hört. Vieles hat sie schon vor 10 oder 20 Jahren genau so gesagt, und es hat dem Goldschmied nichts ausgemacht, wenn sie gesagt hat: »Trottel«. Das meint sie nicht wörtlich, sonst hätte sie nichtein Leben lang mit dem Goldschmied gelebt. Sie schlafen noch immer Bett an Bett. Es liegt nicht an ihr, daß sie vor Leuten sagen muß: »Das heißt nicht Karfunkel, du meinst Karbunkel.« Vollkommen sachlich; übrigens hat sie es ihm schon zu Hause gesagt. Es ist furchtbar, wenn man überhaupt nichts mehr sagen kann. Einmal sagt sie: »Jetzt redest du wie ein Gaga«, aber dafür entschuldigt sie sich; sie hat es so gemeint – sie sagt das nie wieder.
     
    Eigentlich braucht es gar keinen Entschluß mehr, wenn er auf einer Bank sitzt am Wald: es genügt der Blick auf die Stadt, Limmat, Türme, Gasometer bei Schlieren, ein Liebespaar, das in den Wald geht. Der Goldschmied hat jetzt die Schlafmittel in der Manteltasche. Er wird 64. Worauf wartet er? Wenn er in der Nacht ohnehin auf die Toilette muß: zehnmal je drei Tabletten je mit einem Schluck, das ist zu machen. Es muß nur sicher sein. In die Bodega kommt er nicht mehr (der Goldschmied wird nicht vermißt, aber er fehlt: der alte Eisenofen, das Ofenrohr durch den Raum usw., zwei oder drei Alte gehören eigentlich zum Inventar), plötzlich weiß er nicht, wozu in diese Bodega. Wenn er Papier mit seinem Briefkopf nachbestellen läßt oder wenn er sich nochmals eine neue Baskenmütze kauft, bedeutet es nicht, daß der Goldschmied warten will, bis zum ersten Hirnschlag. Dann ist es zu spät. Die Schwiegertochter in San Paolo schreibt, sie kommen im September nach Zürich; der Goldschmied wird sich nicht an ihren Kalender halten, so nett ihr Vorschlag gemeint ist: Familien-Ausfahrt an den Vierwaldstättersee, wo es die gebackenen Felchen in Bierteig gibt. Sie findet, der Goldschmied arbeite zu viel. Wenn er in der Nacht ohnehin auf die Toilette muß, ist es schon 4 Uhr morgens, und wenn er um 9 Uhr nicht zum Kaffee kommt, ruft sie um Hilfe, man wird von einer Ambulanz ausgepumpt. Es ist nur zu machen gegen Abend; nicht zu spät,damit die Ambulanz nicht zu früh kommt; nicht zu früh, damit er nicht schon vor dem Fernsehen einschläft. Schneetreiben am andern Tag; damit sein Vorsatz, gegen 10 Uhr abends die Schlafmittel zu nehmen, nicht auffällt, verbringt er den Tag wie üblich: vormittags in der Werkstatt, nachmittags in der Bodega (zum letzten Mal), er trinkt nicht mehr als üblich, liest den TAGESANZEIGER , um sich die Zeit zu vertreiben. Sie merkt bloß, daß er wieder in der Bodega gewesen ist: »Du vertrottelst noch in dieser Bodega.« Wenn man sich in der Hand hat, braucht man sich nichts gefallen zu lassen; da der Goldschmied sie nicht einmal anblickt, sondern im TAGESANZEIGER
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