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Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Autoren: Max Frisch
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blättert, tut, als habe er es nicht gehört, wiederholt sie: »Du vertrottelst.« Dabei hat der Goldschmied sich in der Hand wie schon lang nicht mehr; er findet es nur schade, daß sie das gerade heute sagt. Am andern Morgen ein toter Goldschmied, das geht nicht; sie müßte sich Vorwürfe machen, daß sie das gesagt hat. Sie schlafen noch immer Bett an Bett. Um 10 Uhr, wenn jeweils die Nachrichten kommen, denkt der Goldschmied fast jedesmal daran. Der Goldschmied kennt jemand mit Hirnschlag. Scheinbar ist es nur das Lid, das streikt; es gibt Sonnenbrillen, um das zu verdecken; plötzlich sind alle Leute sehr lieb zu ihm, unsicher, ob er noch denken kann. Weiß so jemand, daß er lallt? Er wird sich nicht mehr davon erholen, aber es muß nicht sein, daß es zum zweiten Hirnschlag kommt. Noch hat der Goldschmied sich in der Hand, noch kann er denken. Ein andermal geht es wieder nicht: seine Frau muß morgen zum Arzt, sagt sie. Es kann sein, daß man schneiden muß, sagt der Arzt, kein Grund zur Sorge, eine Sache von 8 oder 10 Tagen … So lang muß er's verschieben.
     
    Der Goldschmied lebt noch immer. Es kommt zu den gebackenen Felchen in Bierteig am Vierwaldstättersee im Septembermit dem Enkelchen aus San Paolo. Jajaja! Nur die Großmutter fühlt sich nicht zum besten; sie erzählt die Geschichte ihrer Operation im Frühjahr, während der Goldschmied findet, die gebackenen Felchen in Bierteig schmecken auch nicht mehr wie früher. Der Sohn aus San Paolo: Generalvertreter einer schweizerisch-amerikanischen Firma, schon fast ein Amerikaner, wenn er so von Latein-Amerika erzählt und dazu die einheimischen Schwäne füttert. Der Goldschmied hört, daß Geld überhaupt keine Rolle mehr spiele, auch wenn er 90 wird, überhaupt keine Rolle. Jajaja! sagt nicht er, sondern die Großmutter; sie sagt es nicht zu ihm, sondern zum Enkelchen.
     
    Wie er in der Bodega sitzt (der Eisenofen ist noch immer da, nur die Kellner haben gewechselt) und wie er den Fleischkäse aus einem knisternden Papier packt, dann kaut – seine Frau ist gestorben, der Laden verkauft, er wohnt in einem städtischen Altersheim.
     
     
    BERLIN
     
    Zu sehen ist, was man schon weiß. Seither bin ich öfter in Berlin gewesen und habe auf Besichtigung der Mauer verzichtet. Uwe Johnson führt uns wie eine amtliche Person im Dienst, ohne Kommentar; da er sehr groß ist, beugt er sich höflich, wenn eine technische Information verlangt wird, und nimmt jedesmal seine Pfeife aus dem Mund, wie immer in schwarzer Lederjacke, Kopf kahlgeschoren. Er selber bezeichnet sich nicht als Flüchtling, kann aber nicht mehr auf die andere Seite. Ein Tag mit Sonne und mit kaltem Wind, viel heller nordischer Himmel über Stacheldraht. Wenn man die Mauer sieht, so gibt es nichts dazu zu sagen; allerdings läßt sichbei diesem Anblick auch nichts anderes reden. Erst später in einer Kneipe (sie liegt fast noch im Niemandsland) kommt es zum persönlichen Gespräch, ohne daß er seine schwarze Lederjacke etwa ablegt, die er auch im sommerlichen Rom getragen hat. Ein Amtskleid? Der Tabak-Beutel, den ich aus der Tasche nehme, ist ein Geschenk von ihm, weil ich einmal gesagt haben soll – nicht in Rom, nein, in Spoleto und nicht in der Bar, sondern beim Kiosk … Ein homerisches Gedächtnis hat dieser Mann; Mecklenburg wird sich darauf verlassen dürfen.

Erinnerungen an Brecht
    Wie ich Brecht im November 1947, wenige Tage nach seinem Eintreffen in Europa, zum ersten Mal gesehen habe: in der kleinen bücherreichen Wohnung von Kurt Hirschfeld, Dramaturg des Zürcher Schauspielhauses, das drei Brecht-Stücke in deutscher Sprache uraufgeführt hat. Brecht saß da, wie man ihn von raren Fotos kannte, auf der Bank ganz in der Ecke: grau, still, schmal, etwas verkrochen, ein Mann in der Fremde, die seine Sprache spricht. Er schien froh um die Wände an seinen Schultern links und rechts. Ein Bericht über die »Hearings«, die Brecht gerade hinter sich hatte, wurde abgebrochen, als ich dazukam. Ich war damals 36, Architekt. Da er Zürich nicht kannte, zeigte ich ihm den Weg hinunter zum Stadelhofen. Die Stadt, wo er sich auf unbestimmte Zeit niederzulassen gedachte, beachtete er mit keinem Blick. Ich berichtete ihm von Deutschland, soweit ich es von Reisen kannte, vom zerstörten Berlin. Ich solle bald nach Herrliberg kommen, um mehr zu berichten. »Vielleicht kommen Sie auch einmal in diese interessante Lage«, sagte Brecht auf dem Bahnsteig, »daß Ihnenjemand von Ihrem Vaterland
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