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Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Autoren: Max Frisch
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berichtet und Sie hören zu, als berichtete man Ihnen von einer Gegend in Afrika.«
     
    Die Wohnung, zur Verfügung gestellt von dem jungen Ehepaar Mertens, war gratis; seine wirtschaftliche Lage, als Brecht in Zürich lebte, war miserabel: die Reise nach Europa wurde finanziert aus dem Verkauf von Haus und Möbeln in Amerika; die damaligen Einnahmen hätten kaum für einen Studenten gereicht; zwar begannen Verhandlungen mit Peter Suhrkamp, der aber damals auch kein Kapital hatte. Vielleicht täuschte mich sein einziger Luxus: die guten Zigarren. Und seine Gastlichkeit. Brecht, der seine wirtschaftliche Lage nie erwähnte, wirkte nicht mittelloser als später, später nicht wohlhabender als damals.
     
    Empfanden wir Brecht als Deutschen? Als Bayern? Als Weltbürger? Das letztere hätte er sich als Marxist verbeten. In einer Hinsicht wirkte er, verglichen auch mit anderen Emigranten, sehr undeutsch: er analysierte auch den Krieg, den Hitler ausgelöst hatte, nie in nationalen Kategorien. (Später einmal in Weißensee, nach seiner Meinung über bestimmte SED-Funktionäre befragt, wurde er unwillig: »Vergessen Sie nicht, Frisch, es sind Deutsche!« – Dieser Ton war eine seltene Ausnahme.) Was Brecht aus seiner Emigration mitbrachte, war Immunität gegenüber dem »Ausland«; weder ließ er sich imponieren dadurch, daß andere Leute andere Bräuche haben, noch mußte er sich deswegen behaupten als Deutscher. Sein Zorn galt einem gesellschaftlichen System, seine Achtung einem andern; die Weltbürger-Allüre, die immer eine nationale Befangenheit kompensiert, erübrigt sich. Ein Augsburger mit Berlin als Arbeitsplatz, ein Sprachgebundener, Herkunft nicht als Wappen, aber als unvertauschbare Bedingtheit: die selbstverständliche Anerkennung dieser Bedingtheit; Dünkel wieSelbsthaß, national-kollektiv, erweisen sich dann als Relikte, nicht der Rede wert.
     
    23. 4. 1948: erstes öffentliches Auftreten von Bertolt Brecht in Zürich, es blieb das einzige. In einem kleinen Keller, Antiquariat der Volkshaus-Buchhandlung, sitzen hundert oder hundertzwanzig Leute eingepfercht zwischen Bücherwänden; die Buchhändlerin veranstaltet ab und zu solche Lesungen. Brecht hört sich gehorsam meine kleine Begrüßung an, dankt mit höflichem Nicken, setzt sich an den kleinen Tisch, ohne sich auszubreiten, eher hilfsbedürftig, ohne die Zuhörer anzublicken, Brecht mit Brille und mit einem Blatt in der Hand. Ob der Titel, den er rasch genannt hat, in den hinteren Reihen verstanden worden ist, scheint fraglich. Bedrängt von der Nähe der Zuhörer – die vordersten könnten ihre Arme auf den kleinen Tisch legen, was sie natürlich nicht tun, sie sitzen mit verschränkten Armen – verliest er halblaut das Gedicht an die Nachgeborenen, erhebt sich dann flink, das Blatt in der Hand, nein, drei Blätter, und tritt zur Seite, wo es dunkel ist. Weg mit seiner Person! Es lesen Therese Giehse und Helene Weigel, die großen Könnerinnen, und man vergißt, daß Brecht zugegen ist. Nachher, oben in der Buchhandlung, gibt es wenig von Brecht; vieles ist noch ungedruckt. Einige von den Zuhörern, als sie ihre Mäntel nehmen, mustern den grauen Mann aus Distanz; Brecht wird nicht bedrängt. Später sitzt man als kleines Grüppchen bei einem Bier: Brecht, Weigel, Giehse, die dankbare Buchhändlerin, die für die Lesung nicht viel zahlen kann, das Übliche, hundert Franken; Brecht scheint ganz zufrieden.
     
    Einmal als ich wieder nach Herrliberg kam, saßen zwei Brecht in der Diele, beide mit demselben Haarschnitt und in derselben grauen Leinenjacke, einer davon etwas hagerer und linkisch, kollegial-geniert, der andere war Paul Dessau. CasparNeher war öfter da. Dann war Brecht locker, beinahe gemütlich, anders als sonst; Brecht war vergnügt.
     
    Brecht in Gesellschaft von Leuten, die er nicht näher kannte – meistens waren es jüngere Leute, und man traf sich in einer Wohnung, selten in einem Restaurant, wo Unbefugte hätten zuhören können – liebte es, einer der Stilleren zu sein, derjenige, der sich vor allem erkundigt: Schwerpunkt der kleinen Gesellschaft, aber nicht Mittelpunkt, ungefeiert, im Mittelpunkt war immer ein Thema. Ich erinnere mich kaum, daß Brecht erzählte. Er gab ungern Rohstoff. Er breitete nicht aus, verkürzte wenn möglich auf Anekdote hin, die, wenn auch vielleicht zum ersten Mal erzählt, immer etwas Fertiges hatte. Nur selten hatte er ein Bedürfnis zu schildern. Daß Brecht fabulierte, sich in Erfindungen
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