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Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Autoren: Max Frisch
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gingen auf der Terrasse, Brecht äußerst aufmerksam, unverdrossen-aufmerksam, interessiert noch an meinen Mißverständnissen, bereit zu prüfen,ob das am Leser liege oder am Text. Es blieb meine einzige Manuskript-Lektüre. Hingegen hielt es der Anfänger für selbstverständlich, daß der Meister abverlangte, auch selbstverständlich, daß er nicht das nächste Wiedersehen abwartete, sondern sich an die Schreibmaschine setzte und sofort antwortete.
     
    Eine Zeitlang bedrängte mich Brecht, ich solle als Schweizer endlich ein Tell-Stück schreiben. Zu zeigen wäre, daß der Bauernaufstand der Vierwaldstätte zwar erfolgreich war, aber reaktionär gegenüber der Habsburg-Utopie, eine Verschwörung von Querköpfen. Aber das müsse schon ein Schweizer schreiben. Die These, die er vom Theatralischen her verlockend machte, ist der geschichtlichen Wahrheit zumindest näher als der Hymnus, den wir Friedrich Schiller mit dem Rütli-Denkmal gedankt haben, nur schien sie mir allzu beliebig verwendbar als Legitimation heutiger Vögte. Ich wußte nie, ob Brecht, wenn er pfiffig war, seine Pfiffigkeit für undurchschaubar hielt. Ein andermal: Henry Dunant, der Begründer des Roten Kreuzes, das wäre ein landsmännischer Stoff für mich, ein Schimpfer großen Stils, ein Wohltäter, der von allen Seiten bekämpft wird und siegt, und dann sein Werk mißbraucht sieht. Schließlich ein letzter Vorschlag: die CELESTINA von De Roja einzurichten für die Giehse, Brecht bot sich als Verfasser der Songs an, die ich da und dort brauchen würde. Ich saß in einem öffentlichen Park mit dem geliehenen Buch, das er bereits mit Zeichen gespickt hatte, mit Titeln für fällige Songs. Es war verlockend. Ich bekam es mit der Angst. Brecht, wenn man sich einließ, baute jeden um.
     
    Etwas in der Denkart von Brecht, sowohl im Gespräch wie in den theoretischen Schriften, machte den Eindruck: Das ist nicht er, das ist seine Therapie. Drum sind Brechtianergefährdet: sie perfektionieren die Therapie gegen ein Genie, das sie nicht haben.
     
    Was er offenkundig nicht leiden konnte: wenn jemand meinte schmeicheln zu müssen. Ein Schauspieler, der es bei Tisch versuchte, bekam für den Rest des Abends keine Antwort und keine Frage mehr. Ein zu dummer Mensch, Brecht legte es nie darauf an, daß sich jemand als Brecht-Kenner ausweisen mußte; Lob machte ihn unwirsch, Lob als Ersatz für Einsicht.
     
    Einmal am See, als ein Gewitter heraufzog, sah ich ihn sehr ängstlich; als ich den einheimischen Wetterkenner spielte und versicherte, daß wir rechtzeitig unter Dach kommen würden, zuckte er die Schulter: »Ich möchte nicht von einem Blitz getroffen werden«, sagte er, »das würde ich dem Papst nicht gönnen.« Er war wirklich nervös.
     
    Die erste Brecht-Regie (zusammen mit Caspar Neher) hatte fast unter Ausschluß der Öffentlichkeit stattgefunden: in Chur, Februar 1948. In Zürich sahen wir die Antigone, gespielt von Helene Weigel, nur in einer Matinee, die einmalig war und nicht ausverkauft; Hauptsache für Brecht, daß er hatte probieren können. Er hatte keine come-back-Eile. Ob Chur oder Zürich, Brecht probierte für Berlin. Das Stück, das er dem Zürcher Schauspielhaus zur Uraufführung überließ, war ein vergleichsweise harmloses, HERR PUNTILA UND SEIN KNECHT MATTI , geschrieben in Finnland vor langer Zeit, und daß er aus fremdenpolizeilichen Gründen nicht für die Regie zeichnen konnte, war ihm nicht unangenehm. Das alles waren Vorbereitungen, je unauffälliger um so lieber. Während der Proben blieb er im Hintergrund. Ab und zu ein Tip: Eine junge begabte Schauspielerin, Tochter aus reichem Haus, sollte da eine kleine Magd spielen mit einem Wäschebottich.Als Brecht kicherte, wußte sie nicht, was sie verkehrt machte. Sie trug ein Requisit, das kein Gewicht hat. Höflich, nicht ohne die begabte Bürgertochter im übrigen zu loben, verlangte er bloß, daß bei jeder folgenden Probe ein Klumpen nasser Wäsche in dem Bottich sei, nichts weiter. Nach drei Wochen sagte er: Sehen Sie! Ihre Hüften hatten kapiert … Brecht auf der Bühne: immer etwas geniert, als gehörte er da nicht hin; trotzdem sah man die besondere Geste, die er wünschte und die er nicht vormachen konnte, die er eher parodierte. Er konnte unschlüssig sein. Was heute nicht geht, vielleicht geht's morgen oder übermorgen, wenn man sich heute nicht abfindet, wenn man die Unbefriedigtheit aushält und nicht vorgibt zu wissen, wie und ob es jemals gehen wird. Er berief
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