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Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Autoren: Max Frisch
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Widerspruchs, sondern weil ich ihm zu ungeschult war, und Brecht hatte andere Aufgaben als mich zu schulen; er ließ sich lieber auf meine Baustelle führen und Konstruktionen erklären, Probleme der Architektur, auch Schlichteres: die Organisation einer größeren Baustelle. Fachkenntnisse, vor allem wenn sie sich in Betätigung zeigten, erfüllten ihn mit Respekt. Ruth Berlauwar dabei, als Frau bald gelangweilt, während Brecht pflichtschuldig, wenn auch ängstlich, Gerüst um Gerüst erstieg, schließlich sogar einen Zehnmeter-Sprungturm, wo man das Areal am besten überblicken konnte; hier oben war er allerdings für Erläuterungen nicht zu haben, nur für Respekt: Alle Achtung, Frisch, alle Achtung! und als Ruth Berlau, die Kamera vor dem Gesicht, auch noch wünschte, daß Brecht weiter hinaustrete auf die Plattform, weigerte er sich; erst unten war er für Statik-Unterricht empfänglich. »Sie haben einen ehrlichen Beruf.« Sein Gruß, wenn man sich verabschiedete, war manchmal flüchtig, nie herablassend, aber kurz und leicht; jetzt, nach der Besichtigung meiner Baustelle, war er sehr ausdrücklich: kollegial.
     
    August 1948, als wir die Grenze bei Kreuzlingen-Konstanz passierten, war Brecht fünfzehn Jahre nicht mehr auf deutschem Territorium gewesen. Es war auch nur ein Ausflug für einen Abend. Der äußere Anlaß, für Brecht ein willkommener Vorwand, war eine Aufführung bei Heinz Hilpert, Deutsches Theater in Konstanz, von meinem ersten Stück, das ich lieber nicht wiedergesehen hätte. (Im November desselben Jahres, später also, reiste Brecht nach Berlin über Prag und kehrte dann nochmals für einige Monate nach Zürich zurück, bevor er sich 1949 endgültig in Ost-Berlin niederließ.) Ein Zürcher Bühnenarbeiter, der einen alten Lancia besaß, fuhr uns bis zum Schlagbaum. Brecht: »Gehen wir zu Fuß!« Die Kontrolle der Pässe, damals noch immer als sanfte Sensation empfunden, verlief reibungslos. Brecht betontermaßen unberührt. Wir gingen also zu Fuß in das Städtchen, ein schon sehr deutsches Städtchen, unzerstört mit Schildern »Speisewirtschaft« in Fraktur. Nach hundert Metern, mitten in einem Gespräch über irgend etwas, blieb Brecht stehen, um die Zigarre, die offenbar ausgegangen war, wieder anzuzünden, Blick zumHimmel: »Der Himmel ist hier nicht anders!«, dazu jene unwillkürliche Geste, die öfter vorkam: er schob den hageren Hals im weiten Kragen hin und her, ein Zucken, das ihn lockerte. Später die Begrüßung bei Heinz Hilpert und seinen Getreuen; Überschwang machte Brecht immer linkisch, er hielt sich an ein Bier, während ein junger Schauspieler (er hatte schon von der Dreigroschenoper gehört) das Unternehmen in Konstanz zu lobpreisen nicht ermüdete; Brecht staunte: über das Vokabular, das ihn stumm machte. Nach der Aufführung verbreitete sich Brecht über deutsches Bier, das nach wie vor das beste Bier sei; kurz darauf: Gehen wir! Er schwieg sich aus, bis man wieder in Kreuzlingen war; eine Bemerkung von Wilfried Seifert, der uns begleitete, brachte ihn plötzlich zum Bersten. Er begann mit einem kalten Kichern, dann schrie er, bleich vor Wut; Seifert verstand nicht, was mit Brecht los war. Das Vokabular dieser Überlebenden, wie unbelastet sie auch sein mochten, ihr Gehaben auf der Bühne, ihre wohlgemute Ahnungslosigkeit, die Unverschämtheit, daß sie einfach weitermachten, als wären bloß ihre Häuser zerstört, ihre Kunstseligkeit, ihr voreiliger Friede mit dem eigenen Land, all dies war schlimmer als befürchtet; Brecht war konsterniert, seine Rede ein großer Fluch. Ich hatte ihn noch nie so gehört, so unmittelbar wie bei dieser Kampfansage in einer mitternächtlichen verschlafenen Wirtschaft nach seinem ersten Besuch auf deutschem Boden. Plötzlich drängte er zur Rückfahrt, als habe er Eile: »Hier muß man ja wieder ganz von vorne anfangen.«
     
    »Nehmen Sie dieses Foto nach Polen mit«, sagte er, »wahrscheinlich treffen Sie auch Leute von der Regierung, fragen Sie, ob das stimmt.« Er gab mir eine Illustrierte, die nicht eigentlich berichtete, immerhin Bilder zeigte, so daß man vermuten mußte: Mißhandlungen in Schlesien, KZ-Zustände.»Fragen Sie überall, ob das stimmt!« verlangte Brecht, und ich konnte mir nicht vorstellen, daß Leute von der Regierung beispielsweise bei einem Bankett sich einlassen auf diese Illustrierten-Anklage; Brecht: »Fragen kann man immer.« Es war sein Ernst. »Wenn es in Polen diese Zustände gibt«, sagte Brecht,
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