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Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Autoren: Max Frisch
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gehen ließ, einen Einfall vergeudete aufs Geratewohl oder vor Ulk überbordete, habe ich nie erlebt; aber was die Fabulierer dann nicht können, das konnte er: zuhören auf eine aufmunternde, ungeizige Art, sofern etwas berichtet wurde; er brauchte nichts zu sagen oder fast nichts: seine Kritik an den Vorfällen übertrug sich auf den Erzählenden. Mehr als dem Debatteur erlag man dem Zuhörer Brecht.
     
    Einmal besichtigten wir Siedlungen für die Arbeiterschaft, Krankenhäuser, Schulhäuser etc. Der Herr vom Bauamt, das ich um die offizielle Gefälligkeit gebeten hatte, ein Adjunkt, der uns mit einem amtlichen Wagen an alle Ränder der Stadt fuhr, verstand die Fragen des Gastes nicht, erläuterte von Siedlung zu Siedlung dasselbe, während Brecht, anfänglich verwundert über soviel Komfort für die Arbeiterschaft, sich mehr und mehr belästigt fühlte durch eben diesen Komfort, der Grundfragen nicht zu lösen gedenkt; plötzlich, in einem properen Neubau, fand er sämtliche Zimmer zu klein, viel zuklein, menschenunwürdig, und in einer Küche, wo nichts fehlte und alles glänzte, brach er ungeduldig die Besichtigungsfahrt ab, wollte mit der nächsten Bahn an die Arbeit, zornig, daß eine Arbeiterschaft auf diesen Schwindel hineinfällt; noch hoffte er, das sei nur in dieser Schweiz möglich, Sozialismus zu ersticken durch Komfort für alle.
     
    Brecht muß ein manischer Aufschreiber gewesen sein, machte aber nie diesen Eindruck. Das Gefühl, als Besucher unterbreche man ihn, hatte ich nie; er machte einen Sessel frei, von Papieren oder Büchern, wechselte sofort vom Schreiber zum Zuhörer, zum Frager, wobei er sofort auch den Gegenstand seines Interesses wechselte. Kein Wort von seiner Arbeit; die war ausgeschaltet. Verließ man ihn nach zwei oder drei Stunden, wirkte er wach wie vorher; es kam nie zum Ausleiern eines Abends. Ob er danach arbeitete, weiß ich natürlich nicht; ich stelle ihn mir vor wie Galilei: nicht emsig, nur immer gegenwärtig, jederzeit anfällig für Entdeckungen. Eigentlich hätte zu ihm ein Stehpult gepaßt. Ich kann mir nicht denken, daß Brecht, ob er über dem KLEINEN ORGANON oder über den ANTIGONE -Versen sitzt, wie vor einem Mauseloch lauert; eher so: er pflückt, er erledigt, er merkt vor, er hält fest, er probiert, immer locker durch den Wechsel. Anders wäre die Fülle seines Nachlasses kaum zu begreifen, die ihm übrigens, wie es scheint, nicht recht bewußt war: Peter Suhrkamp erzählte einmal, wie Brecht, als sie die Satzproben zu den Stück-Bänden besprachen, auf einen größeren Schriftgrad drängte, damit, wie Brecht meinte, sein Werk doch eine gewisse Ausdehnung bekäme, wenigstens fünf Bände sollten es schon sein.
     
    LEGENDE VON DER ENTSTEHUNG DES BUCHES TAOTEKING AUF DEM WEG DES LAOTSE IN DIE EMIGRATION , ich las das Gedichtin den Kriegsjahren auf der Straße, wie man Tagesmeldungen liest, stehend; die Kohlepapierkopie fast unleserlich, man bekam sie mit dem Auftrag, weitere Kopien herzustellen und die Gedichte weiterzuleiten; in meinem Atelier (ich hatte zwei Zeichner, keine Sekretärin) tippte ich mit acht Durchschlägen:
    »Denn man muß dem Weisen
    seine Weisheit erst entreißen,
    Drum sei der Zöllner auch bedankt:
    Er hat sie ihm abverlangt.«
    Es gehört zu den Erinnerungen, die man sich selber ungern glaubt: da saß ich in der Herrliberg-Wohnung mindestens einmal in der Woche, aber der Gedanke, Brecht etwas abzuverlangen, kam mir nicht, auch als Helene Weigel einmal verriet, was der Überseekoffer dort in der Ecke enthielte. Brecht war 51, der Meister, wie kollegial er sich auch verhielt, und dem Jüngeren fiel nicht ein, daß es ihn vielleicht freuen könnte, wenn man etwas verlangte aus dem Gepäck, das heute als Klassiker-Ausgabe ein ganzes Gestell füllt. Er arbeitete damals am KLEINEN ORGANON unter anderem. Auch das hätte ihm der Jüngere nicht abverlangt, wenn Brecht es nicht eines Tages von sich aus gegeben hätte: wie eine Hausaufgabe. Er möchte wissen, sagte er, ob das verständlich werde. Natürlich las ich es noch in der Nacht, aber meldete mich Tage lang nicht; als ich das Manuskript gelegentlich zurückbrachte, glaubte ich noch immer nicht recht, daß Brecht auf mein Urteil wartete, und legte das Manuskript auf den Tisch, dankend, von anderem redend, schamlos genug: ich überließ es Brecht, das Gespräch darauf zu bringen. Das war wieder einmal draußen auf dem Kiesklebedach; die Weigel kochte, Brecht fragte, während wir hin und her
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