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Töten Ist Ein Kinderspiel

Töten Ist Ein Kinderspiel

Titel: Töten Ist Ein Kinderspiel
Autoren: Corinna Waffender
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Berlin, 2003 Montagabend
    Die Hitze drang durch das kühle Gemäuer, zwängte sich durch hölzerne Ritzen und steinerne Spalten, ließ die bunten Fenster bedrohlich satt erstrahlen. Blutrot der Umhang des Verräters an der Seite des Herrn, das Leid des Sohns tiefblau.
    Sie blieb vor dem Altar stehen. Ließ ihren Blick schweifen und überprüfte, ob alles für den Gottesdienst am nächsten Morgen bereitstand. Eine von Güllners Ideen – Kirche für Arbeitslose jeden Dienstag mit anschließendem Frühstück.
    „Damit sie nicht nur kommen, um sich mittwochs beim Mittagsmahl die Lebensmittel abzuholen! Zweimal die Woche einen festen Termin zu haben, ist wichtig für die Leute.“
    Und er hatte Recht. Tatsächlich bevölkerte seit Anfang des Jahres jeden Dienstagmorgen um zehn ein Grüppchen von etwa zwanzig bis dreißig Männern und Frauen die Stille des Gotteshauses. Oft blieben sie beim Frühstück zum Plaudern sitzen, fast alle kamen am nächsten Tag zur Essensausgabe wieder und einige wenige – wenngleich wohl mehr aus schlechtem Gewissen denn aus Demut – am Sonntagmorgen auch ohne Gaumenfreuden zur Predigt. Immerhin. Ihr Studienkollege machte wenigstens noch Kirche von unten, während sie im besseren Viertel Berlins träge geworden war. Auch deshalb hatte sie Hartmuts Vertretung ohne Zögern übernommen.
    Wie nicht anders erwartet, war alles an seinem richtigen Platz und bereit für den „Himmlischen Dienstag“, wie ihr Kollege sein Projekt genannt hatte, das inzwischen über die Bezirksgrenzen hinaus bekannt war und sich aus zum Teil großzügigen Spenden finanzierte. Die Kaffeetassen standen verkehrt herum auf den vier Tischen, die bistroähnlich im Eingangsbereich angeordnet waren, die Gesangsbücher waren auf der Ablage der letzten Bank gestapelt, erhobener Zeigefinger, dass, nur wer singt, auch Brötchen verdient. Die wiederum würde bis morgen Agnes Walter belegt haben und kurz vor Ende des Gottesdienstes auf die Tische stellen. Auch die Kerzenhalter waren bestückt, frische Blumen schmückten den Altar – nichts fehlte, es war vollkommen unnötig gewesen, herzukommen. Sie konnte sich blind auf die Gemeindehelferin verlassen, die sämtliche Angelegenheiten der Kreuzkirche besser im Auge hatte als sie selbst.
    Wenn Erika Mangold ehrlich war, war sie nicht hier, um nachzusehen, ob in der Kirche alles in Ordnung wäre, sondern weil sie wusste, dass bei ihr zu Hause das Gegenteil der Fall war. Seit Wochen stritten Ingo und sie ohne Pause, sie konnte sich noch so viel Mühe geben – jedes Gespräch endete in einer mittleren Katastrophe. Ihm nach einem anstrengenden Arbeitstag arglos zu Hause begegnen zu wollen, war in etwa so eine gute Idee wie barfuß über ein Tretminenfeld zu spazieren.
    Deshalb wartete sie neuerdings, bis sie sicher sein konnte, dass eines der Kinder nach Hause gekommen war, manchmal holte sie Sara vom Hockeytraining ab. Ingo riss sich immer noch ein wenig zusammen, wenn sie nicht allein waren. Dass man ihn hörte, ihnen beiden lauschte, hatte ihn noch nie gestört, aber er wollte nicht dabei gesehen werden. Doch bald, da war sie sicher, würde er auch ungeachtet Dritter die Kontrolle verlieren. Oder aber zuvor dem Horror ein Ende setzen. Insgeheim und ohne den Gedanken jemals zu Ende zu denken, wünschte sie, dass es so käme. Eines Morgens erwachen und seinen Abschiedsbrief finden. Nichts unternehmen, nur abwarten. Trotz der Liebe, die es zwischen ihnen einmal gegeben hatte, trotz des Glaubens an einen Gott, von dem sie nicht wusste, ob er ihr jemals verzeihen würde.
    Erika Mangold war so sehr in Gedanken, dass sie den leichten Luftzug an ihren Fesseln nicht bemerkte. Sie stand mit dem Rücken zur Tür des kleinen Raums neben dem Altar, der wie ein Arbeitszimmer eingerichtet war. Hellbraune Regale aus Holzimitat voller Bücher und Ordner, ein Schrank, in dem unter anderem das Silber weggeschlossen war, ein kleiner Tisch, auf dem ordentlich nebeneinander ein altes, graues Telefon, eine Ablage, ein Stifthalter und ein Locher standen, davor ein abgenutzter Schreibtischstuhl und schließlich die Liege, die sie in den letzten Wochen magisch angezogen hatte: sich einfach hinlegen und schlafen, stundenlang, wochenlang, monatelang, am Leben vorbei – davon träumte sie. In letzter Zeit hatte sie wieder öfter darüber nachgedacht, warum sie damals eigentlich nicht in ein Kloster gegangen war und ihre Sache direkt mit Gott ausgemacht hatte. Stattdessen wollte sie Trost und Sühne in der
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