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Die Bestien von Belfast

Die Bestien von Belfast

Titel: Die Bestien von Belfast
Autoren: Sam Millar
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    Prolog
    Blutiger Sommer, 1978
    »Keiner, der atmend stand im Leben, Wollt’ jemals gerne nach dem Tode streben.« Tennyson,
Die zwei Stimmen
    Die zierliche Frau lag ausgestreckt, leblos und unbemerkt im üppigen Gras. Obwohl sie kaum noch atmete, versuchte sie, die Augen zu öffnen, doch die blutverkrusteten Lider gehorchten ihr nicht.
    Keine Panik. Du lebst. Im Augenblick zählt einzig und allein das.
    Zaghaft strich sie mit der geschwollenen Zunge über den Gaumen und verzog vor Schmerzen das Gesicht. Ihr schlimmster Albtraum bewahrheitete sich: Die meisten Zähne fehlten, andere waren nur noch abgebrochene Stummel. Hätte sie die Kraft besessen, hätte sie gelacht. Sie lag hier in Devil’s Punchbowl – einem stinkenden, stillgelegten Steinbruch am Stadtrand von Belfast – im Sterben und trauerte ihren einst bildschönen, jetzt für immer zerstörten Zähnen nach. Sie verdrängte den Gedanken daran, wie der Rest ihres Gesichts aussah.
    Im Geiste führte sie hastig eine Inspektion ihres Körpers durch, wenigstens der Teile, die Form und Funktion haben sollten. Sie fühlte sich, als wäre jeder einzelne Knochen gebrochen, jeder Quadratzentimeter Haut abgeschürft. Das Blut pochte in ihren Adern, als suchte es einen Weg nach draußen.
    Was immer mich so lange zusammengehalten hat, strömt offenbar hinaus.
    Sie bemühte sich, eine geringe Zahl zusammenhangloser Gedankenfetzen zu ordnen, und zwang ihr Gehirn, seiner Tätigkeit nachzugehen. Schemen nahmen Gestalt an.
    Es waren vier Angreifer gewesen, möglicherweise fünf. Zwangsweise eingeflößter Alkohol und Drogen hatten Erinnerungslücken zur Folge. Eines wusste sie freilich genau: dass sie sie abwechselnd von vorn und hinten vergewaltigt hatten.
    Mit letzter Kraft klaubte sie an ihren verklebten Lidern, damit wieder Luft an ihre Augen kam. Was die ihr zeigten, erfüllte sie mit Entsetzen. Ein großes Stück Knochen ragte wie ein bleiches Teleskop aus dem linken Bein; das rechte Knie stand in einem unnatürlichen Winkel ab. Ihr halb nackter Körper, gebrochene Rippen und angetrocknetes Blut, stank nach Erbrochenem und Urin.
    Stimmen schossen ihr wie Querschläger durch den Kopf.
    Vergewissert euch, dass sie tot ist.
    Machst du Witze? Die ist schon lange tot. Wir haben eine verdammte Leiche gefickt!
    Manisches Gelächter.
Bestien.
    Schneidet ihr die Kehle durch. Sicher ist sicher.
    Einer der Angreifer kam näher. Sie hielt den Atem an. Er presste das Gesicht an ihres. Sie roch halb verdauten Whiskey und andere Düfte, die mit saurem Körpergeruch wetteiferten; roch ihre eigene Angst, als ihr die kalte Klinge fest an den Hals gedrückt wurde.
    Mach schnell, betete sie. Bring es hinter dich.
    Unerwartet durchbohrten Scheinwerfer die Dunkelheit und hüllten die Angreifer in kalkweißes Licht.
    Verdammte Scheiße! Wir fliegen noch auf! Die ist doch sowieso tot.
    Tot … tot … tot …
    Das nervtötende Summen von Insekten holte sie im Handumdrehen in die Wirklichkeit zurück. Wie von außerhalb ihres Körpers nahm sie eine Schar großer Ameisen wahr, die sich an ihren klaffenden Wunden gütlich taten. Die Ameisen wehrten Fliegen und anderes Ungeziefer von dem Territorium ab, das sie jetzt für sich beanspruchten.
    »Weg da«, zischte sie mit geschwollenem Mund, da sie zu schwach war, die Ameisen wegzuwischen. »Weg …« Sie hatte Insekten stets verabscheut. Jetzt musste sie mitansehen, wie sie sich an ihrem Fleisch labten und winzige Tunnel in Knochen und Haut bohrten.
    In den nächsten Minuten stand die Welt still, als wartete sie darauf, was als Nächstes geschah. Über ihr verwandelte sich die grausame Sonne, die fast zum Greifen nahe schien, in eine riesige orangerote Kugel aus geronnenem Blut.
    Der wärmenden Sonne zum Trotz verspürte die Frau, wie eine schleichende Kälte sie ergriff. Pechschwarze Finsternis stahl sich in ihren Kopf und bedeutete ihr, sich zu fügen, es hinter sich zu bringen, die Ameisen das Werk der verhinderten Mörder vollenden zu lassen.
    Wir haben eine verdammte Leiche gefickt!
    Manisches Gelächter.
Bestien.
    Das abstoßende Gelächter in ihrem Kopf gab den Ausschlag und erfüllte sie mit einer sturen Entschlossenheit.
    Sie verdrängte die quälenden Schmerzen und krümmte ihre tauben Finger.
Na los. Du kannst esss!
Tränen umflorten ihre Augen.
Hör auf zu weinen. Mach esss!
    Mit tauben Fingern bekam sie eine zappelnde Ameise zu fassen. Sie bewegte die Hand wie einen Kran, als sie das Insekt fest gegen eine klaffende
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