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Südlich der Grenze, westlich der Sonne

Südlich der Grenze, westlich der Sonne

Titel: Südlich der Grenze, westlich der Sonne
Autoren: Haruki Murakami
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Fernes schien zum Greifen nah, einstmals Verschwommenes wirkte glasklar.
    »Ich bin sehr glücklich, danke«, hatte Izumi beim Abschied gesagt. Natürlich war ich auch glücklich. Der unglaubliche Fall, dass ein Mädchen mir erlaubt hatte, es zu küssen, war eingetreten. Wie hätte ich da nicht glücklich sein sollen? Dennoch konnte ich mich nicht so recht über mein Glück freuen. Ich glich einem Turm, der seine Basis verloren hat. Je weiter ich aus meiner Höhe in die Ferne blickte, desto stärker begann ich, innerlich zu schwanken. Warum Izumi?, fragte ich mich. Was wusste ich denn überhaupt von ihr? Ich hatte mich doch nur ein paarmal mit ihr getroffen, und wir hatten uns ein bisschen unterhalten. Je länger ich darüber nachdachte, desto unsicherer wurde ich. Ich konnte meiner Unruhe nicht Herr werden.
    Wäre das Mädchen, das ich umarmt und geküsst habe, Shimamoto gewesen, wäre ich jetzt nicht so verwirrt, dachte ich plötzlich. Wir hätten auch ohne Worte mühelos zueinander gefunden. Es hätte keine Unsicherheit und Unruhe gegeben.
    Aber Shimamoto war nicht mehr da. Sie lebte in ihrer eigenen neuen Welt. Genau wie ich in meiner. Es hatte keinen Sinn, Izumi mit ihr zu vergleichen. Es würde nichts nützen. Das Tor zu Shimamotos Welt hatte sich bereits geschlossen. Ich musste mich in meiner neuen Welt zurechtfinden.
    Ich blieb auf, bis der Himmel im Osten hell wurde. Dann legte ich mich ins Bett, schlief zwei Stunden, stand wieder auf, duschte und ging zur Schule. Ich wollte Izumi abpassen, um mit ihr zu sprechen. Ich wollte herausfinden, ob das, was am Tag zuvor zwischen uns geschehen war, noch galt. Ich wollte aus ihrem Mund hören, dass sie noch dasselbe empfand. Am Bahnhof hatte sie zwar gesagt, sie sei glücklich, aber im Licht des neuen Morgens erschienen mir diese Worte wie meiner eigenen Fantasie entsprungen. Doch es ergab sich keine Gelegenheit, mit Izumi zu sprechen. In der Pause war sie die ganze Zeit mit ihren Freundinnen zusammen, und nach dem Unterricht machte sie sich gleich auf den Heimweg. Nur einmal, als wir den Klassenraum wechselten, trafen sich auf dem Flur unsere Blicke. Sie strahlte mich an, und ich lächelte zurück. Mehr nicht. Doch ich empfand dieses Lächeln als Bestätigung der Ereignisse vom Tag zuvor. »Alles in Ordnung. Es ist wirklich passiert«, schien es mir zu sagen. Als ich in der Bahn nach Hause saß, war meine Verunsicherung so gut wie verschwunden. Ich begehrte Izumi, das war eindeutig, und dieses Verlangen verdrängte alle Zweifel der vergangenen Nacht.
    Ich wusste genau, was ich wollte. Ich wollte, dass Izumi sich nackt auszog. Dann wollte ich mit ihr schlafen. Aber bis dahin war es für mich ein weiter Weg, den ich in Gedanken abschritt, indem ich einzelne konkrete Bilder aneinanderreihte. Um zum Sex zu gelangen, musste ich zunächst den Reißverschluss ihres Kleides öffnen. Aber zwischen dem Reißverschluss und dem tatsächlichen Geschlechtsverkehr lag eine Strecke, die mir vermutlich zwanzig bis dreißig schwierige Entscheidungen und Einschätzungen abverlangte.
    Als Erstes beschaffte ich mir Kondome. Auch wenn ich noch ziemlich weit von dem Stadium entfernt war, in dem diese erforderlich wurden, wollte ich sicherheitshalber welche zur Hand haben. Man konnte ja nie wissen, wann man sie brauchte. Allerdings kam es nicht infrage, sie in einer Apotheke zu kaufen. In keinem Fall würde man mich für etwas anderes als einen Elftklässler halten, außerdem war ich nicht gerade ein Draufgänger. In der Stadt gab es einige Automaten, aber wenn ich gesehen wurde, wie ich Kondome zog, saß ich in der Klemme. Drei oder vier Tage lang grübelte ich unentwegt über dieses Problem nach.
    Am Ende war alles viel einfacher als gedacht. Ich hatte einen Freund, der sich in solchen Dingen vergleichsweise gut auskannte. Kühn bat ich ihn um seinen Rat. Ich bräuchte Kondome, wisse aber nicht, wie ich an welche herankommen könne. »Nichts leichter als das. Wenn du willst, kann ich dir eine Schachtel besorgen«, erklärte er sich bereit, als ob es gar nichts wäre. »Mein Bruder hat sich einen ganzen Haufen schicken lassen. Keine Ahnung, warum er so viele bestellt hat, aber der ganze Schrank ist voll von den Dingern. Wenn ein Päckchen fehlt, merkt er das nicht mal.«
    »Ich wäre dir sehr dankbar«, sagte ich. Am nächsten Tag brachte er mir die Kondome in einer Papiertüte mit in die Schule. Ich lud ihn zum Mittagessen ein und bat ihn, keinem Menschen etwas davon zu
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