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Südlich der Grenze, westlich der Sonne

Südlich der Grenze, westlich der Sonne

Titel: Südlich der Grenze, westlich der Sonne
Autoren: Haruki Murakami
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Mutter und habe ein Kind. Aber dass dieses Kind Geschwister hat, kann ich mir nicht vorstellen. Weder Brüder noch Schwestern. Es ist ein Einzelkind.«
    Shimamoto war offenbar ein frühreifes Mädchen, das sich für mich als Mitglied des anderen Geschlechts interessierte. Auch ich fühlte mich auf diese Weise zu ihr hingezogen, wusste aber nicht, wie ich damit umgehen sollte. Shimamoto ging es vermutlich ebenso. Ein einziges Mal nur nahm sie meine Hand, um mich irgendwohin zu ziehen, so als wolle sie sagen »komm schnell, hier entlang«. Sie hielt sie nur etwa zehn Sekunden fest, die mir jedoch wie eine halbe Stunde vorkamen. Als sie wieder losließ, wünschte ich, sie hätte meine Hand länger gehalten. Die Geste hatte ganz natürlich gewirkt, doch ich wusste, dass Shimamoto mit Absicht gehandelt hatte.
    Noch heute erinnere ich mich genau, wie ihre Hand sich angefühlt hatte. Ganz anders als jede Berührung, die ich damals kannte und später kennenlernte. Es war nur die kleine, warme Hand eines zwölfjährigen Mädchens. Dennoch schien in ihren fünf Fingern und ihrer Handfläche wie in einem Schaukasten alles enthalten zu sein, was ich wissen wollte und wissen musste. Indem Shimamoto meine Hand hielt, führte sie mich an einen Ort, an dem diese Dinge wirklich existierten. Während dieser zehn Sekunden hatte ich das Gefühl, ganz und gar ein kleiner Vogel zu sein. Ich konnte mich hoch in die Lüfte schwingen, den Wind spüren und von hoch oben die Landschaft weit unter mir sehen. Ich war zu hoch, um alles deutlich erkennen zu können. Aber ich spürte, dass dort etwas war und ich eines Tages dorthin gelangen würde. Diese Erkenntnis nahm mir den Atem und ließ mein Herz erzittern.
    Wieder zu Hause, setzte ich mich an meinen Schreibtisch und betrachtete lange die Hand, die Shimamoto gehalten hatte. Ich war sehr glücklich, dass sie es getan hatte. Dies schöne Gefühl glühte noch mehrere Tage in mir nach. Zugleich war ich verwirrt und bedrückt. Was sollte ich mit dieser Wärme anfangen, wie konnte ich sie bewahren?
    Nach der Grundschule kamen Shimamoto und ich auf verschiedene Schulen. Aus irgendwelchen Gründen zogen meine Eltern und ich in eine andere Stadt. Allerdings lag sie nur zwei Bahnstationen entfernt, und ich besuchte Shimamoto in den ersten drei Monaten nach dem Umzug noch ein paar Mal. Aber dann nicht mehr. Wir waren damals in einem komplizierten Alter. Durch die andere Schule und die Entfernung von zwei Bahnstationen hatte sich meine Welt völlig verändert. Ich hatte andere Freunde, eine andere Schuluniform und andere Lehrbücher. Mein Körper, meine Stimme und meine Empfindungen waren abrupten Veränderungen unterworfen, und die vertraute Atmosphäre, die zwischen Shimamoto und mir geherrscht hatte, verwandelte sich zunehmend in Befangenheit. Ihre physischen und psychischen Veränderungen erschienen mir noch gravierender als meine eigenen und riefen ein diffuses Unbehagen in mir hervor. Außerdem hatte ich das Gefühl, dass ihre Mutter mich zunehmend misstrauischer beäugte. »Was will dieser Junge denn noch bei uns?«, schien sie sich zu fragen. »Er wohnt doch gar nicht mehr hier und geht auf eine andere Schule.« Vielleicht war ich auch zu empfindlich. Jedenfalls irritierten ihre Blicke mich sehr.
    So entfernte ich mich allmählich von Shimamoto, bis ich schließlich gar nicht mehr zu ihr ging. Was wahrscheinlich ein Fehler war (ich kann hier nur das Wort »wahrscheinlich« verwenden, denn es ist nicht meine Aufgabe, den gewaltigen Speicher der Vergangenheit zu durchforsten und zu entscheiden, was darin richtig oder falsch ist). Jedenfalls hätte ich die Verbindung zu ihr aufrechterhalten sollen. Ich brauchte sie und sie mich vielleicht auch. Aber meine Selbstzweifel waren zu stark, und ich fürchtete mich zu sehr vor einer Kränkung. So sah ich sie erst lange danach wieder.
    Auch nachdem ich Shimamoto aus den Augen verloren hatte, dachte ich stets voller Sehnsucht an sie. In meiner Pubertät, dieser von Verwirrung und Melancholie erfüllten Zeit, trösteten und ermutigten mich meine Erinnerungen an sie immer wieder. Viele Jahre lang räumte ich ihr einen besonderen Platz in meinem Herzen ein. Ich hielt ihn für sie frei, so wie man ein Schild mit der Aufschrift »reserviert« auf einen ruhigen Tisch in einer hinteren Ecke eines Restaurants stellt. Wenngleich ich nicht damit rechnete, sie jemals wiederzusehen.
    Als ich Shimamoto kennenlernte, war ich erst zwölf und kannte noch kein sexuelles
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