Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Südlich der Grenze, westlich der Sonne

Südlich der Grenze, westlich der Sonne

Titel: Südlich der Grenze, westlich der Sonne
Autoren: Haruki Murakami
Vom Netzwerk:
in der Schule etwas gab, was sie nicht mochte, aß sie es trotzdem auf. Anders als ich. So war der Schutzwall, den sie um sich errichtete, ungleich höher und stärker als meiner. Doch was sich dahinter befand, war auffallend ähnlich.
    Ich gewöhnte mich sofort daran, mit ihr allein zu sein. Das war eine völlig neue Erfahrung für mich. In ihrer Gegenwart verspürte ich nie die Nervosität und Befangenheit, die ich beim Umgang mit anderen Mädchen empfand. Ich ging gern mit ihr von der Schule nach Hause. Wegen ihres Beins mussten wir unterwegs immer auf einer Parkbank ausruhen. Was mich nicht im Geringsten störte, im Gegenteil, ich freute mich, weil wir dadurch länger brauchten.
    Obwohl Shimamoto und ich viel Zeit zusammen verbrachten, kann ich mich nicht erinnern, dass die anderen Kinder über uns lästerten. Damals dachte ich mir nichts dabei, aber im Nachhinein wundert mich das ein bisschen, denn in jenem Alter sind Freundschaften zwischen Jungen und Mädchen normalerweise Gegenstand von Hänseleien. Ich vermute, dass diese Zurückhaltung mit Shimamotos Persönlichkeit zusammenhing. Andere fühlten sich in ihrer Nähe eingeschüchtert. »Vor der darf man keinen Blödsinn reden«, schien die einhellige Meinung zu sein. Selbst Lehrer wirkten ihr gegenüber manchmal befangen. Wahrscheinlich hatte dies auch mit ihrer Behinderung zu tun. Jedenfalls galt es offenbar als unpassend, sich über Shimamoto lustig zu machen, und ich war froh darüber.
    Wegen ihres Beins war Shimamoto vom Sportunterricht und von Bergwanderungen befreit. Sie nahm auch nicht an der sommerlichen Schwimmfreizeit teil, und auf dem alljährlichen Sportfest an unserer Schule wirkte sie immer etwas fehl am Platz. Ansonsten führte sie jedoch das ganz normale Leben einer Grundschülerin. Über ihre Behinderung sprach sie, soweit ich mich erinnere, nie. Auf unserem gemeinsamen Heimweg von der Schule entschuldigte sie sich nie für ihre Langsamkeit, und auch sonst ließ sie sich nie etwas anmerken. Dennoch wusste ich, dass sie unter ihrer Behinderung litt und sie gerade deshalb nie erwähnte. Sie ging nicht zu anderen Kindern nach Hause, weil sie dann im Flur ihre Schuhe hätte ausziehen müssen. Der linke hatte eine höhere Sohle als der rechte. Es handelte sich offensichtlich um eine Spezialanfertigung, und es war ihr wohl unangenehm, die Schuhe den Blicken anderer auszusetzen. Mir war aufgefallen, dass sie sie, sobald sie nach Hause kam, im Schuhschrank verstaute.
    Im Wohnzimmer der Familie Shimamoto stand eine hochwertige moderne Stereoanlage, auf der wir oft Schallplatten hörten. Allerdings konnte die Sammlung ihres Vaters sich nicht mit der Qualität seiner Anlage messen. Er besaß etwa fünfzehn Langspielplatten mit überwiegend leichter klassischer Musik, die wir unermüdlich immer wieder abspielten. Noch heute kann ich diese Stücke in- und auswendig.
    Der Umgang mit den Schallplatten war Shimamotos Aufgabe. Sie nahm sie aus der Hülle und legte sie mit beiden Händen auf den Plattenteller, ohne die Rillen zu berühren. Nachdem sie mit einem kleinen Pinsel die Nadel vom Staub befreit hatte, setzte sie mit größter Behutsamkeit den Tonarm auf. Wenn die Platte zu Ende war, besprühte sie sie mit einem antistatischen Mittel und wischte sie mit einem weichen Tuch ab. Anschließend schob sie sie wieder in ihre Hülle und stellte sie ins Regal zurück. Diese Handgriffe führte sie mit ernster Miene genau so aus, wie ihr Vater es ihr beigebracht hatte. Oft kniff sie dabei die Augen zusammen und hielt sogar den Atem an. Ich saß währenddessen auf dem Sofa und beobachtete sie. Sooft sie eine Platte ins Regal zurückstellte, schenkte Shimamoto mir ein kleines Lächeln. Und jedes Mal fragte ich mich, ob das, was sie in ihren Händen hielt, womöglich nicht nur eine Schallplatte war, sondern eine empfindsame, in einer gläsernen Flasche eingeschlossene Seele.
    Bei uns zu Hause gab es weder einen Plattenspieler noch Schallplatten. Meine Eltern machten sich nichts aus Musik. Deshalb saß ich meist in meinem Zimmer und presste mein Ohr an ein kleines UKW -Radio aus Plastik. Fast immer hörte ich Rock   'n'   Roll. Doch bald fand ich auch Geschmack an den klassischen Stücken, die ich bei Shimamoto hörte. Für mich waren sie Musik »aus einer anderen Welt«, und wahrscheinlich lag die besondere Anziehungskraft dieser »anderen Welt« darin, dass Shimamoto ihr angehörte. Ein- oder zweimal in der Woche verbrachten wir den Nachmittag auf dem Sofa im
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher