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Südlich der Grenze, westlich der Sonne

Südlich der Grenze, westlich der Sonne

Titel: Südlich der Grenze, westlich der Sonne
Autoren: Haruki Murakami
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erwerben«, sagte sie. »Besser gesagt, wir müssen sie uns erwerben. Vielleicht haben wir uns nicht genug darum bemüht. Wir dachten, wir hätten uns etwas aufgebaut, aber in Wirklichkeit haben wir gar nichts aufgebaut. Alles ist zu glatt gelaufen. Vielleicht sind wir zu glücklich gewesen. Meinst du nicht auch?«
    Ich nickte.
    Yukiko verschränkte die Arme vor der Brust und sah mich an. »Auch ich hatte einmal Träume und Fantasien. Doch irgendwann haben sie sich verflüchtigt. Schon bevor ich dich kennenlernte. Ich habe sie getötet. Aus eigenem Willen getötet und abgeworfen. Wie ein Organ, das man nicht mehr braucht. Ob das richtig war, weiß ich nicht. Aber damals konnte ich nicht anders. Manchmal träume ich, dass mir jemand etwas bringt. Ich hatte diesen Traum schon viele Male. Jemand kommt und überreicht mir etwas mit beiden Händen. ›Meine Dame, Sie haben das hier vergessen‹, sagt er. Ich war immer sehr glücklich mit dir. Es gab nichts, worüber ich unzufrieden gewesen wäre oder was ich mir noch gewünscht hätte. Dennoch verfolgt mich etwas. Nachts schrecke ich schweißgebadet hoch. Das, was ich fortgeworfen habe, verfolgt mich. Du bist nicht der Einzige, der von etwas getrieben ist. Nicht der Einzige, der etwas fortgeworfen und für immer verloren hat. Verstehst du, was ich sagen will?«
    »Ich glaube, ja«, sagte ich.
    »Vielleicht wirst du mir wieder wehtun. Ich weiß nicht, was ich dann tun werde. Oder vielleicht werde beim nächsten Mal ich dich verletzen. Wir können beide nichts versprechen, du nicht und ich nicht. Aber ich liebe dich noch. Und nur darauf kommt es an.«
    Ich nahm sie in die Arme und strich ihr übers Haar.
    »Weißt du was, Yukiko?«, sagte ich. »Morgen fangen wir ein neues Leben an. Heute ist es schon so spät. Ich will mit einem ganz neuen, unberührten Tag beginnen.«
    Yukiko sah mich eine Weile an. »Täusche ich mich«, sagte sie, »oder hast mich noch immer nichts gefragt?«
    »Ich möchte morgen ein neues Leben mit dir anfangen. Was hältst du davon?«, fragte ich.
    »Ich denke, das könnte gehen«, sagte Yukiko und lächelte fein.
    Als Yukiko wieder ins Schlafzimmer gegangen war, legte ich mich auf den Rücken und starrte an die Decke. Es war eine ganz normale Zimmerdecke, nichts Besonderes. Dennoch schaute ich die ganze Zeit dorthin. Hin und wieder huschte in einem bestimmten Winkel das Scheinwerferlicht eines Wagens über sie hinweg. Keine Visionen drängten sich mir auf. Ich konnte mich nicht mehr genau erinnern, wie Shimamotos Brüste sich anfühlten, wie ihre Stimme klang oder ihre Haut duftete. Izumis ausdrucksloses Gesicht kam mir in den Sinn. Und wie ich es durch die Taxischeibe berührt hatte. Ich schloss die Augen und dachte an Yukiko. Im Geist wiederholte ich, was sie gesagt hatte. Mit geschlossenen Augen lauschte ich den Regungen meines Körpers. Vielleicht war ich dabei, mich zu ändern. Ich musste mich ändern.
    Ich zweifelte noch immer, ob ich die Kraft aufbringen würde, auf ewig für Yukiko und die Kinder zu sorgen. Die Visionen, aus denen ich meine Träume speiste, konnten mir nicht mehr helfen. Leere bleibt immer Leere. Allzu lange hatte ich mich in dieser Leere aufgehalten. Hatte versucht, mich dort heimisch zu machen. Am Ende war ich dort angekommen, wo ich begonnen hatte. Ich musste mich darauf einlassen. Vielleicht war jetzt ich derjenige, der Träume für andere spinnen musste. Das war nun meine Aufgabe. Ich wusste nicht, wie viel Kraft diese Träume haben würden. Doch wenn ich meinem Leben einen Sinn geben wollte, musste ich mit all meiner Kraft daran arbeiten.
    Wahrscheinlich .
    Als die Morgendämmerung kam, gab ich den Versuch zu schlafen auf. Ich hängte mir eine Strickjacke über den Schlafanzug, ging in die Küche und machte Kaffee. Ich setzte mich an den Küchentisch und beobachtete, wie der Himmel heller wurde. Ich hatte schon lange nicht mehr zugesehen, wie ein neuer Tag anbrach. Am Rand des Himmels zeichnete sich eine bläuliche Linie ab, die sich langsam wie auf Papier zerlaufende blaue Tinte ausbreitete. Wenn man alle Blautöne auf der ganzen Welt versammelt und das blauste Blau daraus gewählt hätte, dann wäre es wohl dieses gewesen. Die Ellbogen auf den Tisch gestützt, beobachtete ich das Schauspiel, ohne an etwas zu denken. Als die Sonne über den Horizont stieg, wurde das Blau sogleich vom gewöhnlichen Tageslicht verschluckt. Über dem Friedhof stand eine einzelne reinweiße Wolke. Sie war so klar umrissen und deutlich,
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