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Südlich der Grenze, westlich der Sonne

Südlich der Grenze, westlich der Sonne

Titel: Südlich der Grenze, westlich der Sonne
Autoren: Haruki Murakami
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ich. Allerdings war sie durch diese Belastung stärker und selbstbewusster geworden, als ich es jemals hätte sein können. Nie kam auch nur ein Wort der Klage über ihre Lippen. Nie sah man ihr ihren Kummer an, und was auch geschah, ihr Lächeln versagte nie. Fast kam es mir so vor, als vertiefe es sich, je unerträglicher eine Situation wurde. Es war ein wunderschönes Lächeln, das mich oft tröstete und ermutigte. »Mach dir nichts draus«, schien es zu sagen. »Hab nur etwas Geduld, dann wird auch das vorübergehen.« Später war es vor allem dieses Lächeln, das meine Erinnerung an Shimamoto beherrschte.
    Shimamoto war sehr gut in der Schule und behandelte andere stets fair und freundlich. Sie wurde respektiert. Obwohl sie ebenfalls ein Einzelkind war, benahm sie sich in dieser Hinsicht ganz anders als ich. Fraglich war allerdings, ob unsere Klassenkameraden sie wirklich vorbehaltlos mochten. Keiner ärgerte oder hänselte sie, aber Freunde hatte sie außer mir keine.
    Vielleicht wirkte sie zu unnahbar und selbstbewusst. Manche fanden sie vielleicht zu kühl und anmaßend. Ich dagegen spürte immer wieder, dass sich hinter ihren Worten und in ihrer Miene eine gewisse Wärme und Verletzlichkeit verbargen, etwas, das entdeckt werden wollte wie ein Kind, das Verstecken spielt.
    Da Shimamotos Vater häufig versetzt wurde, hatte sie immer wieder die Schule gewechselt. Welchen Beruf er ausübte, weiß ich nicht mehr genau. Sie hatte mir einmal ausführlich davon erzählt, aber wie die meisten Kinder interessierte ich mich nicht für das Berufsleben fremder Väter. Ich glaube mich zu erinnern, dass er irgendetwas bei einer Bank oder einem Steuerberater war. Sie wohnten in einem für eine Firmenwohnung recht großen Haus westlichen Stils. Es war von einer soliden, hüfthohen Mauer mit einer immergrünen Hecke umgeben, durch die man hier und dort einen Blick auf den Rasen im Garten erhaschen konnte.
    Shimamoto war fast so groß wie ich und hatte markante Züge. Jahre später sollte sie zu einer hinreißenden Schönheit heranwachsen. Doch als ich sie kennenlernte, hatte sie noch nicht die äußere Erscheinung erreicht, die ihrem Wesen entsprach. Sie hatte damals etwas Unausgewogenes an sich, und die meisten fanden sie nicht besonders anziehend. Vielleicht lag es daran, dass das Erwachsene und das Kindliche an ihr einander widersprachen und dieses Ungleichgewicht den Betrachter verunsicherte.
    Während ihres ersten Monats in der Klasse saß sie neben mir, weil ich am nächsten wohnte (ihr Haus lag buchstäblich nur einen Katzensprung von unserem entfernt). Es gehörte zu den Regeln unserer Schule, dass ein neuer Schüler von einem in seiner direkten Nachbarschaft wohnenden Kind betreut wurde. Bei Shimamoto galt dies einmal mehr, da sie gehbehindert war. Unser Klassenlehrer hatte mich eigens zu sich gerufen und mir den Auftrag erteilt, mich um sie zu kümmern. Ich hatte sie in die notwendigen Einzelheiten unseres Schulalltags einzuweihen: welche Unterrichtsmaterialien sie für die jeweiligen Fächer brauchte, wann die wöchentlichen Tests stattfanden, wie weit wir in den Lehrbüchern waren, wann man Putz- oder Essensdienst hatte. Wie es zwischen elf- oder zwölfjährigen Jungen und Mädchen, die sich nicht kennen, die Regel ist, waren wir bei unseren ersten Gesprächen noch ziemlich verlegen. Doch als wir erst einmal erkannten, dass wir beide Einzelkinder waren, wurde daraus rasch ein lebhafter und inniger Austausch. Beide waren wir nie zuvor einem anderen Einzelkind begegnet, und wir ergingen uns in leidenschaftlichen Erörterungen über unser Los. Wir hatten einander so unendlich viel zu sagen. Nicht jeden Tag, aber sooft es sich ergab, gingen wir zusammen von der Schule nach Hause. Während unseres etwa einen Kilometer langen Heimwegs (wegen ihres Beins konnten wir nur langsam gehen) redeten wir ununterbrochen und entdeckten dabei viele Gemeinsamkeiten. Wir lasen beide gern. Wir hörten beide gern Musik. Wir mochten beide Katzen. Uns fiel es beiden schwer, anderen unsere Gefühle zu zeigen. Die Liste der Nahrungsmittel, die wir nicht mochten, war lang. Wir lernten ohne Schwierigkeiten, solange der Stoff uns Spaß machte, aber die ungeliebten Fächer verabscheuten wir wie den Tod. Einen Unterschied gab es jedoch zwischen uns: Shimamoto bemühte sich viel disziplinierter darum, sich zu schützen. Sie lernte auch in den Fächern, die sie nicht mochte, und hatte ziemlich gute Noten. Anders als ich. Wenn es zum Mittagessen
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