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Südlich der Grenze, westlich der Sonne

Südlich der Grenze, westlich der Sonne

Titel: Südlich der Grenze, westlich der Sonne
Autoren: Haruki Murakami
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Verlangen im eigentlichen Sinn. Ich verspürte zwar ein vages Interesse an den Rundungen ihrer Brüste und an dem, was sich unter ihrem Rock befinden mochte, hatte jedoch keine Ahnung, was dies konkret bedeutete und wohin es führen würde. Mit gespitzten Ohren und geschlossenen Augen versuchte ich mir ein Bild von dem zu machen, was dort war. Meine Vorstellungen waren natürlich sehr undeutlich. Alles lag im Nebel, die Umrisse waren vage und verschwommen. Dennoch spürte ich, dass sich dort etwas für mich sehr Bedeutsames verbarg. Und ich wusste genau, dass Shimamoto etwas Ähnliches sah.
    Wahrscheinlich fühlten wir beide, dass wir noch unfertige Geschöpfe waren, auf der Suche nach einem neuen, zu erreichenden Etwas, das uns erfüllen und vervollkommnen würde. Zehn Sekunden lang standen wir Hand in Hand vor dem Tor zu diesem Neuen. Nur wir beide. Im Schein eines trüben, flackernden Lichts.

2
    In der Oberschule entwickelte ich mich zu einem normalen Teenager. Dies war die zweite Phase in meinem Leben und ein weiterer Schritt in meiner Entwicklung. Ich hörte auf, etwas Besonderes zu sein, und wurde ein ganz normaler Mensch. Ein aufmerksamer Beobachter hätte natürlich erkannt, dass ich Probleme hatte. Aber gibt es einen Sechzehnjährigen auf der Welt, der keine hat? Während ich mich der Welt annäherte, kam auch sie auf mich zu. Zumindest war ich mit sechzehn kein verwöhntes Einzelkind mehr. In der siebten Klasse trat ich spontan in einen Schwimmverein in der Nähe ein. Dort lernte ich zu kraulen und schwamm regelmäßig zweimal in der Woche Bahnen. Dadurch bekam ich breitere Schultern, mein Brustkorb wurde kräftiger, und meine Muskeln strafften sich. Ich war auch nicht mehr das kränkliche Kind, das bei jedem bisschen Fieber bekam und ins Bett musste. Oft stand ich lange vor dem Badezimmerspiegel und erkundete ausführlich meinen Körper. Ich konnte beinahe zuschauen, wie er sich veränderte. Diese radikalen Veränderungen gefielen mir, weniger jedoch, weil ich mich gefreut hätte, erwachsen zu werden, sondern eher weil sie mich zu einem anderen machten.
    Ich las gern und hörte gern Musik. Obwohl ich Bücher und Musik schon immer gemocht hatte, hatte sich meine Hinwendung zu beidem durch die Freundschaft mit Shimamoto vertieft und verfeinert. Ich ging regelmäßig in die Bücherei und verschlang ein Buch nach dem anderen. Hatte ich einmal angefangen zu lesen, konnte ich nicht mehr aufhören. Es war wie eine Sucht. Ich las beim Essen, in der Bahn, bis spät abends im Bett, sogar heimlich während des Unterrichts. Irgendwann besorgte ich mir eine kleine Stereoanlage und verbrachte nun meine gesamte Freizeit in meinem Zimmer, um Jazz zu hören. Ich hatte nicht das Bedürfnis, mit jemandem über die Bücher, die ich las, und die Musik, die ich hörte, zu sprechen. Ich war völlig zufrieden, wenn ich für mich sein konnte. So gesehen war ich ein sehr einsamer und anmaßender junger Mann. Für Mannschaftssportarten hatte ich nicht das Geringste übrig. Ebenso verabscheute ich Wettkämpfe jeder Art. Lieber zog ich meine einsamen, stummen Bahnen im Schwimmbad.
    Was nicht heißt, dass ich ein absoluter Einzelgänger war. In der Schule schloss ich einige enge Freundschaften, wenn auch nicht viele. Ehrlich gesagt gab es nicht einen einzigen Tag, an dem es mir in der Schule gefiel. Ich hatte ständig das Gefühl, erdrückt zu werden, und lebte deshalb in ständiger Abwehrhaltung. Ohne meine Freunde hätte ich gewiss tiefere Wunden aus dieser schwierigen Zeit des Heranwachsens davongetragen.
    Nachdem ich angefangen hatte, Sport zu treiben, verkürzte sich die Liste der von mir verabscheuten Lebensmittel ganz erheblich. Auch errötete ich nur noch selten, wenn ich mit einem Mädchen sprach. Es schien sich auch niemand mehr daran zu stören, dass ich ein Einzelkind war. Offenbar hatte ich diesen Fluch, zumindest äußerlich, abgeschüttelt.
    Und ich lernte meine erste Freundin kennen.
    Sie war keine ausgesprochene Schönheit. Gar nicht der Typ, der Mütter beim Anschauen eines Klassenfotos aufseufzen lässt und zu der Frage treibt: »Wer ist denn das? So ein hübsches Mädchen.« Doch ich fand sie, schon als ich sie das erste Mal sah, sehr süß. Auf Fotos war das nicht zu erkennen, aber in Wirklichkeit strahlte sie eine Wärme und Aufrichtigkeit aus, durch die sich alle auf ganz natürliche Weise zu ihr hingezogen fühlten. Sie war keine Schönheit, mit der man angeben konnte. Andererseits war ich, wenn ich es mir
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